Abschiedsrunde
Während des Tai Chi Unterrichts arbeiten wir oft sehr nach innen gesammelt, begegnen auf eine schwer nennbare Weise uns selbst und der Welt. Der Tai Chi-Spieler ist interessiert, fasziniert, berührt und schweigt zumeist über das Angerührtsein. Wenn die Stunde vorüber ist läuft man auseinander und jeder ist mit dem Erlebten wieder allein. Wollte man einen angemessen Abschied in Worte fassen, würde es wahrscheinlich pathetisch und peinlich. Ich habe jahrelang in meinen Kursen Abschiedsrituale ausprobiert und bin schließlich zu einer Form gelangt, die mir gefällt.
Wenn genügend Schüler beisammen sind, stehen wir in einem kleinen Kreis und summen mit geschlossenen Augen ein Ohm, dessen Resonanz oder Dissonanz ein Spiegel des gemeinsamen Innen der Gruppe ist. Auf diesen Teil des Abschiedsrituals will ich aber jetzt nicht eingehen.
Wenn wir im kleinen Kreis stehen, fasst jeder seinen Nachbarn mit der Hand auf das Tor des Lebens (Ming Men). Der Platz auf dem Rücken ist ein bisschen eng für zwei Hände, aber Du findest Dich schon damit zurecht. Du spürst also die Hände Deiner Nachbarn auf Deinem Lebenstor und atmest ihnen entgegen. Einatmend füllt sich Dein Bauch und rundet sich Dein Rücken. Das Lebenstor öffnet sich und drückt sich den Nachbarshänden entgegen. Dabei rollt Dein Becken vor, die Knie federn ein und Du wirst ein bisschen kleiner. Währenddessen spürst Du unter Deinen Händen wie sich die Lebenstore rechts und links einatmend öffnen und ausatmend wieder schließen.
In der ersten Phase des Abschiedsrituals spürst Du in den atmenden Kreis. Die Gruppe entwickelt dabei immer ein langsames Schwingen, das sich aus dem Atmen und Balance finden der Einzelnen ergibt. Du spürst Dich als einen Teil dieses Kreises. Tatsächlich warst Du während der Tai Chi-Stunde auch ein Teil dieser Gruppe. Du hast mit Dir und Deinem Dasein die Gruppe erzeugt und bist zugleich von ihr als „Gruppe“ erzeugt worden. Diese Verbindung ist entstanden ob Du es bemerkt hast oder nicht, ob Du es angestrebt hast oder nicht, ob Du die Gruppe genossen hast oder ob sie Dich gestresst hat. Die jetzige Meditation gibt Dir eine spürbare Gestalt für Deine Verbindung zu der Gruppe und würdigt diesen wesentlichen Aspekt Deines Tai Chi Lernens.
In der zweiten Phase des Abschiedsrituals spürst Du die stärkende, Wachstum fördernde Kraft, die Dir aus der Gruppe zufließt. Tatsächlich hast Du mit jedem aus der Gruppe im Verlauf der Stunde direkt oder indirekt zu tun gehabt und jeder hat, soweit es ihm möglich war seines dazu getan, damit sich Dir Wege öffnen, damit Du Dinge spüren kannst, damit Du Bewegungen findest, Zusammenhänge verstehst, damit Du vertrauen kannst, entspannen, sinken, damit Du nehmen kannst und geben. Das mag in manchen Fällen nicht hilfreich gewesen sein, ist aber alles Deinem Wachstum zugedacht gewesen. Ein schönes und ausgesprochen fruchtbares Umfeld, wenn Du es anzunehmen verstehst. Oft haben Menschen eine Scheu Gutes anzunehmen, aus Bescheidenheit, aus Angst vor Verpflichtungen oder aus Angst gedrängt zu werden. Jetzt aber möchtest Du diese fördernde Kraft aus der Gruppe annehmen. Du lässt zu, das Dir von jedem Einzelnen aus der Gruppe eine Kraft zuwächst, wie ein Baum aus jeder seiner Wurzeln Kraft empfängt, die in ihm aufsteigt, ihn kräftigt und zur Sonne hin aufrichtet.
In der dritten Phase des Abschiedsrituals spürst Du Dein stärkendes und Wachstum förderndes Qi der Gruppe zufließen. Tatsächlich hast Du mit jedem Einzelnen aus der Gruppe eine Übung gemacht oder hast vor ihm oder hinter ihm gestanden. Wenn Du jemandem etwas gezeigt hast, hast Du darauf geachtet einen Erklärungsweg zu wählen, auf dem der Andere verstehend folgen konnte. Wenn Du von jemandem gelernt hast, hast Du darauf geachtet ihn in seiner Kraft zu stärken in dem Du offen warst für seine Gabe. Du hast Jeden in der Gruppe gespürt, hast seine Scheu, seinen Mut, seine Verspannung, seine Erdung gespürt und warst für Jeden da so gut Du es eben konntest. Es kann sein, dass Du das Gefühl hattest nichts geben zu können. Es mag sein, dass Du auch Einzelne verschreckt hast oder verpasst. Dennoch warst Du aufmerksam aufs Fördern bedacht, wie ein pflegender Gärtner. Jetzt willst Du Deiner fördernden Kraft vertrauen und jedem Einzelnen im Kreis Dein Bestes schicken, das Du für ihn hast, wie das Wasser aus der Erde, das Kraft spendet und Wachsen lässt und aufrichtet.
In der vierten Phase des Abschiedsrituals spürst Du Himmel und Erde und Dich als freien Kanal zwischen diesen Polen. Du stehst immer noch mit den Anderen im Kreis und bleibst mir ihnen verbunden. Dennoch bist Du, wie während des Unterrichts auch, ganz unabhängig von allen anderen Menschen von der Schwerkraft zur Erde hin gezogen. Jeder stoffliche Teil von Dir hat eigene Schwere und wird somit von der Erde angezogen. Du kannst dieser Anziehung entsprechen und jedem der erdangezogenen Teile in Dir den sinnhaftesten und geschmeidigsten Weg ins Sinken hinein öffnen. Diese Durchlässigkeit lernen wir als fließendes Qi zu spüren. Durch die Erdanziehung empfängst Du die Aufrichtung. Durch das Sinken empfängst Du das Steigen. Indem Du zur Erde sinkst, richtest Du Dich zum Himmel hin auf. Das ist die zentrale Ausrichtung, durch die Du in diesem Erdenleben bedingt bist. Du entsprichst den Kräften die auf Dich wirken und empfängst so ihre Richtung und ihren Sinn. Du kannst das jederzeit spüren und kannst dem jederzeit folgen. Du spürst das Jetzt. Deine Aufrichtung, Deine Richtung, die Dir ganz eigen ist, völlig unabhängig von den anderen Menschen im Kreis.
In der fünften Phase des Abschiedsrituals spürst Du Deine lebendige Mitte. Du spürst nicht was Du weißt oder was messbar wäre. Du spürst die Mitte der Welt in Deiner Mitte. Wir leben in einer Zeit in der das Messbare immer genauer wird, so genau, dass messbar wird, dass nichts messbar ist. Die messbare Welt hat keine Substanz mehr und dennoch lebst Du in ihr und fühlst sie von Deiner Mitte aus. Im Kasperle Theater fragt man am Anfang „seid Ihr auch alle da?“ Ja, Du bist Da und fühlst dass es gut ist Da zu sein. Dieses Dasein trägst Du mit Dir so lange Du lebst und hast die Freiheit es zu spüren oder zu vergessen. Jetzt, am Ende des Abschiedsrituals gibst Du diesem Dasein den Raum. Innere und äußere Ordnung. Wenn wir uns in solch einen Abschiedskreis gestellt haben, spüre ich den Moment des Anfangs, der in vertrauten Gruppen beinahe sofort eintritt und in neuen Gruppen ein Weilchen braucht.
Dann gebe ich jeder Phase einen tiefen Atemzug lang Zeit. Es könnten aber auch für jede Phase vier Atemzüge sein, so wie in der Form die Dinge vier mal wiederholt werden. Soll die Gruppe synchron meditieren, werdet Ihr eine Absprache darüber finden müssen. Viele Teilnehmer brauchen in spirituellen Dingen ein großes Maß an Freiheit, das auch beinhalten darf lieber nicht an diesem gemeinsamen stillen Qi Gong teilzunehmen, oder sogar aus dem Kreis heraus zu treten. Die Schüler würden nicht zum Tai Chi kommen wenn sie nicht auf der Suche wären nach sinngebenden inneren Richtungen. Diese Richtungen sind immer eigene Richtungen, die selbst erlebt werden und ihr eigenes Timing haben. Eine Bahnung wie ich sie mit diesen fünf Phasen vorgebe ist nur ein Angebot und keine Pflicht.
Schließlich löst sich der Kreis. Du löst Deine Hände vom Rücken Deiner Nachbarn und trittst einen Schritt zurück. Dann wendest Du Dich jedem der Teilnehmer einmal zu, um Dich von ihm zu verabschieden. Du bist mit jedem der Teilnehmer ein Wegstück gegangen und kannst Dich so auch von Jedem verabschieden. In großen Gruppen wirst Du nicht jedem in die Augen schauen können. Aber Du kannst Dich jedem einmal wertschätzend zuwenden und weißt das jeder der Teilnehmer sich Dir wertschätzend und verabschiedend zugewandt hat. Meine Schüler sagen, ich sagte dann zum Schluss vom Schluss „schön.“ Ich merke das gar nicht so. Manchmal sage ich auch „gute Nacht,“ wenn es spät geworden ist. Oder „so, das war’s,“ wenn noch zu viele Orgelklänge in der Luft liegen.