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Hinter dem Ende der Welt

Ich wollte 18 werden. Früher dachte man, die Welt sei eine Scheibe. Die Seefahrer hatten Angst zu weit hinaus zu fahren. Manche aber fuhren eben deswegen; soweit sie konnten.

18! Das war für mich die Kante über die ich fallen wollte. Dahinter die Freiheit, die Versprechung: Das selbstbestimmte Leben.
Die 18 erreichte ich ohne zu segeln, die Strömung trieb mich darauf hin. Ich sah meine Freunde, wie sie hinüberfuhren… und nichts geschah. Bei mir aber, sollte etwas geschehen!
Ich beschloss ein Fest zu feiern, das einen Anfang setzt, eine Wegmarkierung für den Rest meines Lebens: Ein Wagnis, ein Beweis, ein Leuchtturm.
Mit einer Freundin fuhr ich hinaus und erkundete die Landschaft. Ich las Seekarten und studierte Tabellen. Als Koch war ich unerfahren. Ich wollte Grünkohl für alle und Schnaps, das heißt: Korn, obwohl ich selbst so etwas noch nie getrunken hatte. Es ging um einen Plan, eine Inszenierung. Wir alle, auf der Bühne des Lebens. Auf dem Markt kaufte ich sehr viel Grünkohl ein. So viel frischen Grünkohl, dass der Transport ein Problem war. Der ganze Kohl landete in der Badewanne. Ich wusch ihn lange und immer noch sammelte sich Sand am Boden. Ich dachte daran in der Wanne mit dem Kohl zu baden. Aber es war einfach zu voll. Damals wollte ich Filmemacher werden. Am liebsten hätte ich im Urwald gefilmt. Mit meiner Super 8 Kamera flog ich dicht über den undurchdringlichen Grünkohlwald dahin: Endlose Weiten grüner Hölle. Ein Scheinwerfer stand auf der Waschmaschine, einen hielt mein Bruder. Es ist gut einen treuen Bruder zu haben. Wir kochten mit mehreren Töpfen. Wasser lief an den Scheiben herab. Damals hatten wir noch Einfachverglasung und Januar.
Ich lud nicht meine besten Freunde ein, nicht die, die mir am nächsten waren, sondern nur solche die träumen konnten. Die Uhrzeit war festgelegt. Wer zu spät käme, würde uns nicht mehr vorfinden. Unbedingt mitzubringen seien: Hohe und dichte Gummistiefel. Warme Kleidung und Unterkleidung. Regenmantel, und wichtig: auch Regenhose. Zuhause bleiben sollten: Angst und die Erwartung von dem, was sie von einem Geburtstag gewohnt seien. Aber unbedingt: „Bring Deine Kraft zu träumen mit!“
Wir hatten einen grünen VW Bus, ein gutmütiges Wesen, das manchmal nicht ansprang. Meine Mutter war dann sicher, den Zündschlüssel zu hastig gedreht zu haben. Sie drehte den Schlüssel langsamer und noch einmal langsamer, bis… das Auto schließlich ansprang. Mein älterer Bruder stieg in solchen Fällen aus, trat beängstigend kräftig und siegessicher gegen das Blech… und es sprang an. Ich war am versiertesten, öffnete den Motorraum und klopfte dort gegen den Grauguss, wo ich wusste, dass das Zahnrad des Anlassers ins Getriebe fassen sollte. Natürlich sprang er dann an. Bei meinem Vater sprang das Auto immer an, einfach so.
Wir waren 15. Meine Mutter war dabei. Eine Frau die träumen kann. Den Mut ihren Sohn über die Kante reisen zu lassen musste sie ja wohl haben, aber selbst mit hinüber? Wusste sie wohin die Reise ging? Mein Freund Arne war dabei, der Jahre später mit einem Heißluftballon aus Rübenabdeckfolie in den Himmel stieg. Es ist Niemand dabei zu Schaden gekommen, nur sehr viel Rübenabdeckfolie ist verbrannt. Mein Freund Rüdiger, war damals noch nicht mein Freund, setzte aber später meine Idee um, mit einem Heizungskessel über den Atlantik zu fahren. Menschen voller Hoffnung auf die Welt hinter der gefährlichen Kante.
Mitte Januar. Schneeregen war angekündigt. Als wir mit zwei Autos losfuhren war es noch hell. Pünktlichkeit war wichtig. Wir fuhren nach Norden. Im VW Bus: leere Bierkisten, Bierbänke und der geliehene Topf, die Griffe so, dass man ihn zu zweit tragen konnte. Dick in Decken gewickelt stand er zwischen unseren Füßen. Der Wellensittich, der mir im Sommer zuvor von einem Ast im Park auf den Finger gestiegen war, durfte diesmal nicht mit. Er saß sonst vorne auf dem Lenkrad und spazierte hastig nach links und rechts, gegengleich zur Lenkbewegung.
Wir waren Richtung Norden gefahren. Dämmerung, Starkwind, jetzt setzte der Schneeregen ein. Wir fuhren hinauf und wieder hinab über den Deich, vor uns das Wattenmeer. Der Wind schaukelte das Auto: „Aussteigen!“ Erst gab es ein Zögern… dann ein Zuzurren der Kapuzen und los. Jeder hatte etwas zu tragen. Wir gingen hinaus ins Watt. Nach einer Weile sahen wir außer gewelltem Sand und dem Blinken des Leuchtturms nur noch Schwärze um uns.
Julie hatte die Zeit gemessen: „Jetzt!“
Wir bockten die Kisten auf, legten das Brett darüber, die Bierbänke hielten dem Wind stand, indem wir uns setzten. Woher kam die gebügelte Tischdecke meiner Mutter? Tischdecke? In Wirklichkeit wollte sie ein Segel sein und zerrte wie nie zuvor und nie danach um davon zu fliegen. Wir aber hielten sie fest, für den Moment mit den Händen und für die Jahrzehnte danach mit der Erinnerung. Laut der Sturm! Wir konnten uns kaum verstehen, mussten brüllen. Wir waren hungrig. Ein Tisch voller Gäste auf dem Boden des Meeres. Um uns, unsichtbar, die Böen. Über uns war der Himmel aufgerissen. Wolkenfetzen, Mondlicht jagte.
Es war seltsam zu essen und dabei die erfrorenen Hände nicht zu spüren. Einer fing an mit den Händen zu essen. Der Kohl war immer noch warm. Später steckten wir unsere Hände in den heißen Kohl im Topf. Ich brüllte meinen Tost und wollte den Schnaps in die kleinen Gläser gießen. Aber der Wind blies den Schnaps einfach wieder hinaus. Also: Korn direkt aus der Flasche, von Mund zu Mund, reihum im Kreis.
Julie blickte auf die Uhr. Mein Herz wollte zerspringen. Zittern vor Kälte und Erwartung. Keiner ahnte etwas. Da, es kam: Das Meer!
Im Tempo eines Spaziergängers kam nachts das Meer nachhause. Leise, ohne Schaum, aber auch ganz ohne zögern.
Einige schrien erschrocken. Aber ich konnte alle zum bleiben bewegen. Das Meer kam näher, es erfasste den Tisch und unsere Füße, es hüllte uns ein, umschloss uns, salziges Wasser soweit der Blick reichte.
Ein Tisch voller Gäste im Meer, oben der Mond, die Wolken flohen hinaus, erfroren die Hände. Es war möglich den Mund stumm zu öffnen und es heulte darin der Wind. Glück, heiß und innen. Zwei Minuten sind wir geblieben. Genug Zeit um alles für einen Traum zu halten. Dann ging es zurück. Jeder trug etwas und trug noch etwas, was er nicht getragen hatte, als er hinausging.
Ich trage es bis heute.

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