Veröffentlichungen
Ich liebe Geschichten.
Hier findest Du eine feine Auswahl an schönen Texten und Geschichten, die mir im Lauf der Zeit begegnet sind und es bis aufs Papier geschafft haben.
Ich freue mich, wenn Du mir Deine Gedanken dazu
– oder auch eigene Geschichten, die Dir einfallen –
per Email schreibst.
Viel Spaß beim Lesen!
Überblick
Zeitschriftenartikel
2024
Der König kommt
Von Daniel Grolle
Netzwerkmagazin, S. 14-17
Wie entsteht Krieg, wie Frieden? Daniel Grolle erzählt gerne Geschichten und veranschaulicht anhand einer erlebten Konfliktsituation, wie er zwei Streitende aus der Trennung in die Verbindung brachte. In seinem Unterrichtssystem ist die Übertragung der Tai Chi Prinzipien in den Alltag stets präsent. Im Erklärkasten geht er genauer darauf ein, wie Taiji ein Weg zum Frieden sein kann.
2024
Nachruf für Gudrun Geibig
Von Sonja Blank und Daniel Grolle
Netzwerkmagazin, S. 44-45
Gudrun Geibig ist am 2. Januar 2024 gestorben. Ihre besondere Leidenschaft galt dem Tai Chi, aber auch Qi Gong, Wilderness, Feldenkrais, Akupunktur, Schamanismus, dem Trommeln und dem Zen-Buddhismus.
2023
Selbstfürsorge und Eigenverantwortung im Taiji-Unterricht
Von Janina Burschka, Daniel Grolle
und Peter Kuhn
Netzwerkmagazin, S. 16-19
Eine ganz alltägliche Übungssituation und Herausforderung für jede Lehrerin und jeden Lehrer: Ihr übt das Qi wecken und einer deiner Schüler bekommt Knieschmerzen. Traut sich dein Schüler zu sagen: „Mein Knie tut weh“? Möchten sie einfach weitermachen? Oder lieber hinspüren? Macht er von selbst eine Pause? Oder musst du ihm das erst vorschlagen? Weiß er schon, warum es weh tut und kennt den Schmerz? Oder ist er neu für ihn? Vielleicht bleiben all diese Fragen und Antworten im Verborgenen, weil er lieber schweigt und seinen Schmerz geheim hält. Wenn ich als LehrerIn möglichst vielen meiner SchülerInnen gerecht werden möchte, dann versuche ich, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die best mögliche Form von Selbstfürsorge und Eigen-verantwortung entsteht und wächst. Dieser Artikel stellt drei Möglichkeiten
vor, das Thema Gesundheit in die Unterrichtsgestaltung zu integrieren.
2019
Tai Chi für die Polizei
Von Daniel Grolle,
Netzwerkmagazin, S. 16-19
Unser Vater hat uns oft Geschichten von der Polizei und von Räubern erzählt. Irgendwie ging es immer darum, dass die Räuber es schaffen, heil davon zu kommen. Später im Gymnasium sprachen alle von den „Bullen“, die die Kernkraftwerke und Atomwaffenbunker verteidigten. Eine Polizeisirene zu hören, bedeutete immer Vorsicht! Mache ich gerade etwas falsch?
2017
Fein und Gemein: Wie trickst der Geist den Geist aus?
Von Daniel Grolle
Taijiquan und Qigong Journal
Beim Taijiquan geht es um eine sehr feine Bewegungsaussteuerung und eine
sehr genaue Wahrnehmung der eigenen Bewegungen sowie der von außen
wirkenden Kräfte. Dabei kann uns die Tendenz des menschlichen Geistes, auf-
grund von Erfahrungen oder Informationen Vorstellungen zu entwickeln, die
die Wirklichkeit überlagern, im Weg stehen. Für Daniel Grolle ist diese Tendenz
ein wichtiges Thema in seinem Unterricht und er stellt hier eine einfache Part-
nerübung vor, die darauf abzielt, durch »feine und gemeine« Interventionen
den Geist aus seinen gewohnten Bahnen herauszuholen und dabei größere
Freiheit im Geist und Durchlässigkeit im Körper zu ermöglichen.
Mental Alkohol
Von Daniel Grolle
Netzwerkmagazin, S. 50-51
Ich habe nur meine Zunge hineingesteckt. Es schmeckte grässlich. Ich weiß nicht mehr ob es Bier war, oder Kaffee, Etwas für Erwachsene, unmöglich das zu trinken. Dagegen war es überhaupt kein Problem Apfelsaft mit Sprudel zu trinken. Zuhause mischten wir uns das immer aus einer Sprudelflasche und einer Apfelsaftflasche zusammen. In Frankreich durfte ich mir den Apfelsaft selbst aus dem Laden beim Campingplatz holen. Dort gab es schon fertig zusammen gemischten, sprudelnden Apfelsaft zu kaufen. Der schmeckte anders als in Deutschland, besser sogar.
2016
Fehlerkultur – Fehler lieben lernen
Von Daniel Grolle
Netzwerkmagazin, S. 31-33
Fehler spielen beim Erlernen von Taiji eine überragend große Rolle. Dabei sind es gar nicht die Fehler, die die Schüler machen, das Problem, son dern, wie sie damit umgehen! Das liegt an der Fehlerkultur, in der wir le ben. Die Übenden stellen an sich selbst den Anspruch, die Dinge richtig zu machen. Sie wollen, so gut es geht, ohne Fehler sein. Die Vorstellung, Fehler zu machen, löst bei den meisten unangenehme Gefühle und Angst aus.
2015
Die Liebe des Kriegers
Von Daniel Grolle,
Netzwerkmagazin, S. 9-10
Es gibt viel Verwandtschaft zwischen dem Kampf und der Liebe. Beides führt zu großer körperlicher Nähe. Es gibt viel Berührung. In beiden Künsten spüren wir einander ohne all die üblichen körperlichen Grenzen und Hemmungen. Nur in der Liebe und im Kampf trauen sich Menschen einander ganz in die Augen zu schauen. Sie wollen und müssen alles sehen. Kampf und Liebe können über Leben und Tod entscheiden. Das eine kann ein Leben beenden, das Andere ein Leben beginnen.
2011
Christel Proksch – ein Nachruf
Von Daniel Grolle
Netzwerkmagazin, S. 22-25
Sie war eine kleine, große Frau, die die Menschen liebte und von den Menschen
geliebt wurde. Sie hat uns mit Leichtig keit bewegt und die Gabe zu bewegen
an uns weiter gegeben.
2008
Intervision bei der Qilin-Akademie
Von Daniel Grolle
Netzwerk Magazin, S. 36
Die Lehrer der Qilin-Ausbildung für Kinder, Thomas Luther-Mosebach, Thomas Kirchner und Daniel Grolle, sowie die Organisatorin Gudrun Geibig nutzten die
Zeit nach dem offiziellen Unterricht, um sich nach selbst gesetzten Spielregeln gegenseitig Intervision zu geben.
2003
Vom zappelnden Knallfrosch zum seligen Walross:
Erfahrungen mit Kinder Tai Chi an einer Grundschule
Von Daniel Grolle-Moscovici,
Taijiquan und Qigong Journal
Taijiquan im Rahmen von Pflichtunterricht an einer Schule ist etwas ganz anderes als in Gruppen, zu denen Kinder oder Erwachsene aus eigenem Interesse kommen. Diese Erfahrung machte Daniel Grolle-Moscovici im Schuljahr 2001/2002 an einer Grundschule, die sich Taijiquan zur Gewaltprävention wünschte. Nach anfänglichen massiven Schwierigkeiten entwickelte er allmählich eine funktionsfähige Unterrichtsstruktur, die um ein zum Kreis gebundenes Seil aufgebaut ist, sowie diverse »coole« Übungen, die die Aufmerksamkeit der Kinder fesselten. »Ganz nebenbei« konnten die Kinder ihre Körperkoordination verbessern und einen sensiblen körperlichen Umgang miteinander kennen lernen.
Gewonnener Zweikampf
Daniel Grolle-Moscovici,
Netzwerk Magazin, S.7
Ich erzähle diese Geschichte in meinen Kursen, weil sie schön ist und weil sie ein bestimmtes Verhalten wunder bar darstellt, das ich Yang im Yang nenne. Die genannten Qualitäten des Kämpfers, vom Mut bis zur Schnelligkeit sind Yang Qualitäten, die sehr schnell einen Kampf dominieren Du kennst Deine Technik, Du bemerkst den günstigen Moment, Dein Körper folgt ohne Wiederstand Deinem wachen Geist… doch fehlt das Yin, das Aufnehmende, Lauschende, das Dich stimmig in die Welt einbindet und wenn es gut entwickelt ist, die meisten äußeren Heldentaten überflüssig macht.
2000
Unermüdlich Üben und dabei nicht den Spaß verlieren:
Ein Portrait von Wee Kee Jin
Von Daniel Grolle-Moscovici
Taijiquan und Qigong Journal
Wee Kee Jin war der letzte persönliche Schüler des Taiji-Lehrers Huang Xiangxian, der als Schüler von Professor Zheng Manqing in Malaysia und Singapur zahlreiche Schulen leitete. Wee Kee Jin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, sein eigenes Können nach besten Kräften zu entwickeln und das Erbe seines Lehrers an Lern- und vor allem Übungswillige weiterzugeben. Die »Basics« stehen dabei immer im Vordergrund seines Unterrichts. Daniel Grolle-Moscovici hatte Wee Kee Jin für Workshops nach Hamburg eingeladen. Aufgrund dieser nahen Begegnung und seiner Erfahrungen aus Seminaren stellt er diesen eifrigen Lehrer vor.
Texte über Tai Chi Allgemein
Kurzform nach Cheng Man Ching
An Cheng Man Ching scheiden sich die Geister. Kann einer wirklich ein großer Meister sein, der nicht aus einer alten Kampfkunst-Familie stammt? Kann einer ein chinesischer Meister sein, wenn er noch nicht einmal 80 Jahre alt geworden ist? Kann einer ein Meister sein, der getrunken haben soll, der als einer der Ersten sein Wissen an Westler weitergegeben hat, der sich mit langhaarigen Wilden, mit Freaks aus der Anti-Vietnam-Bewegung eingelassen hat? Wie kann einer ein wirklicher Meister der Kampfkunst sein, wenn er offenbar noch Zeit gefunden hat, Gedichte zu schreiben, einer der anerkanntesten traditionellen chinesischen Ärzte Taiwans zu sein und dann noch in der Kalligraphie zu brillieren?
Ein Ausnahmefall in der sonst eher hochspezialisierten Tai Chi-Welt. Man stelle sich einen Top-Fußballspieler vor, der zugleich Gedichte schreibt, Vorsitzender eines Ärztebundes ist und ein landesweit bekannter Maler! Von diesem Mann geht ein Geist aus, der zu großer Bewunderung und Verehrung Anlass gegeben hat, ebenso wie zu Unverständnis und Verachtung. Seinen Geist hat dieser Mann in eine Flasche gebannt und gut verkorkt in das Meer der Kampfkunst-Geschichte geworfen.
Als ich diese Flasche zuerst von meiner Großtante und Lehrerin Christel Proksch entkorkt bekam, war es für mich einfach nur das, was draufstand: Tai Chi Chuan. Erst Jahre später, als ich vielen anderen Spielern begegnete, entdeckte ich eine erstaunliche Verwandtschaft unter denen, die aus der Cheng Man Ching-Tradition kamen. Damit meine ich nicht, dass ich deren Form eben kannte und andere Tai Chi-Formen nicht, sondern eine merkwürdige geistige Nähe. Auf Tai Chi-Camps zum Beispiel, wo es um Austausch statt um Konkurrenz geht, oder da wo Leute mit Offenheit und Forschergeist an den Tai Chi-Prinzipien anstatt an den Techniken arbeiten. An solchen Orten tauchen immer wieder Cheng Man Ching-Schüler auf.
In dieser Tradition steht dir heute also nicht nur ein großer, verstorbener Meister gegenüber, sondern eine Vielzahl jeweils sehr hoch entwickelter Richtungen und Einzellehrer, die zumindest zu einem gewissen Maße auch untereinander kommunizieren und in einem gemeinsamen liebenswerten Wachstumsprozess sind.
Ich durfte in meinen 25 bisherigen Tai Chi-Jahren immer wieder erfahreneren Tai Chi-Spielern begegnen, die bei Cheng Man Ching selbst gelernt haben. Und in all diesen Menschen hallt bis heute noch der Urknall der Begegnung mit dem großen Meister nach. Manche, wie mein Lehrer Ben Lo, sind von dieser Begegnung so sehr geprägt, dass man fast um ihre eigene Identität bangen könnte. Wenn Ben Lo über sich oder das Tai Chi spricht, beginnt er seinen Satz mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Namen des „Professors“.
Den heutigen Cheng Man Ching-Enkeln ist diese ungeheure Kraft ihres geistigen Großvaters oftmals überhaupt nicht bewusst. Epi van de Pol arbeitet an einem Buch, in dem er all die Erzählungen über den Meister sammeln möchte. Wolfe Lowenthal hat zwei bewegende Bücher über seine Erlebnisse mit Cheng Man Ching verfasst, deren erstes „Es gibt keine Geheimnisse“ ich all meinen Schülern unters Kopfkissen empfehle.
Und jetzt schließlich gibt es das inzwischen zweite Cheng Man Ching Forum, auf dem wir Schüler, Enkel und Urenkel versuchen, unser gemeinsames großes Erbe zu erhalten und zu stärken. Lasst uns im Geiste Cheng Man Chings zart sein und stark.
Von meinem eigenen Üben
Ein kleiner Bericht von meinem eigenen Üben
Es ist viele Jahre her, dass ich mich mit dem Öffnen des Herzens beschäftigt habe. Ganz am Anfang standen Dehnungsübungen. Ein wichtiger Teil war einmal eine starke eigene Verliebtheit, in der mein Herz über Monate wie wund war, ständig leicht schmerzhaft erregt und doch wunderbar lebendig. Diese Lebendigkeit habe ich damals ins Taiji übertragen und dort durch Übungen verankert. Ich habe das Herz als eigenständiges Wahrnehmungsorgan entdeckt, das wie ein zusätzlicher Sinn, Kontakt mit der Welt aufnimmt, sie wahrnimmt, aber auch in sie zurück wirkt. Zurzeit übe ich wieder viel mit Schülern an verschiedenen Aspekten der Herzöffnung im Taiji.
Heute bin ich früh erwacht und habe mit meinen Übungen begonnen. Ein Teil davon war sehr anstrengend und ich lag zwischendrin tief atmend auf unserer Küchenbank, ruhte mich aus und spürte nach. Ich genoss das Gefühl des lebendigen Herzens, spürte mich, die Welt um mich herum, den Moment.
Plötzlich gab es eine seltsame aber deutlich spürbare Entspannung in meinem geöffneten Herzen, die ich so noch nie erlebt hatte. Das war überraschend und angenehm. Im selben Moment erwärmten sich schlagartig meine Füße. Es gab ganz offensichtlich einen Zusammenhang zwischen der ungewohnten Entspannung im Herzen und dem synchronen Erwärmen der Füße.
Dazu muss ich sagen, dass ich früher dauerhaft kalte Füße hatte und nie einen direkten Taijiweg zu warmen Füßen gefunden habe. Beim Laufen der Taijiform erwärmen sich meine Füße und ich habe heute fast nie mehr kalte Füße. Wie diese, über Jahre andauernde Fußerwärmung entstanden ist, habe ich aber nie entdecken können. Ich habe einfach nicht herausfinden können was auf die Wärme meiner Füße wirkt, außer ein allgemein gutes Leben.
Die Zufallsentdeckung heute morgen habe ich sofort zum Thema meines Übens gemacht. Dabei drehte sich die Entdeckung um: Die Erwärmung meiner Füße gab mir ein feedback über die Entspannung des geöffneten Herzens. Diese Entspannung war ja beim ersten Mal zufällig entstanden und ich hatte sie nur bemerkt. Bei dem Versuch diesen Zustand zu wiederholen, habe ich mich zunächst wie ein Taiji Anfänger bewegt. Ich habe Versuche gemacht, wusste aber nicht was genau innerlich zu tun oder zu lassen ist. Wenn ich in die Nähe der richtigen inneren Ausrichtung kam, war das an den Füßen zu spüren. Sie waren wie Lampen, die bei Erfolg der inneren Aufgabe leuchteten. Ich habe solange geübt, bis ich mit diesem seltsamen Phänomen einigermaßen vertraut war.
Der Tag war voller Ereignisse. Aber im Stillen habe ich immer meine Entspannungsübung bei geöffneten Herzen mitlaufen lassen. Ich weiß, dass mich dieses Thema in der nächsten Zeit begleiten wird. Wie immer in solchen Fällen werde ich bestimmte Wechselwirkungen zu meinem Taiji, zu meinem Lebensgefühl und zu tatsächlichen Abläufen in meinem Leben entdecken.
Wenn diese Dinge in mir ausreichend gereift sein werden, werde ich die Ergebnisse dieser „Forschung“ in einer möglichst verständlichen Weise in meiner Forschungsgruppe oder in einer Meisterklasse zum Thema machen. Dort werde ich Erfahrungen darüber machen ob und wie die Schüler diese Dinge am einfachsten aufnehmen können. Wenn es gelingt, wird es am Ende eine leichte, spielerische Übungskette geben, mit der meine Schüler diese Erfahrung in ihr Taiji und ihr Leben mit übernehmen können.
So übe und forsche ich schon sehr lange an ständig weiteren Themen und bin sowohl beschenkt mit einem sich immer weiter eröffnenden inneren Forschungs- und Genussgebiet, wie auch beschenkt mit Schülern, die sich lernend in ihre Genussgebiete hinein weiten und entspannen.
Das meine ich, ist eine zeitgemäße Weise Taiji zu spielen. Wir betreiben Taiji als eine innere Kampfkunst, in der wir innerlich zu kämpfen lernen um ein gutes Leben zu führen.
Warme Füße sind ein wichtiger Teil in einem guten Leben.
Übungstagebuch
Ein Übungstagebuch, wie ich es hier beschreibe, kann das Üben sehr fruchtbar verändern.
Tai Chi Übende durchlaufen oft tiefe, zugleich aber auch flüchtige Erfahrungen. Während der Form sind sie sehr deutlich. Nach der Form verhalten sich diese Erlebnisse wie Träume. Sie kommen aus einer anderen Welt und bleiben nur als vage Erinnerung an etwas Schönes oder Interessantes.
Beim Träumen kann man ein Traumtagebuch führen und so lernen seine Träume besser zu erinnern und in das Leben mit einzubinden. Ähnlich funktioniert ein Übungstagebuch.
Wer ohnehin regelmäßig Tagebuch führt, dem empfehle ich dieses Buch zu benutzen. Es hat den Vorteil, dass es schon einen Platz hat in Deinem Leben, dass Du weißt wo es liegt und gewohnt bist regelmäßig hineinzuschreiben. Wenn Du kein Tagebuch hast, kauf Dir ein geeignetes Übungsbuch das Du möglichst immer bei Dir hast. Im Tagebuch würdest Du Dein Übungstagebuch deutlich sichtbar von dem sonstigen Tagebuch absetzen, z.B. durch neue Zeilen:
Tai Chi Form:
Übung:
Meditation:
Dann schreibst Du direkt nach der Form, Übung oder Meditation in nur wenigen Worten auf, was Du soeben erlebt hast. Wenn Du auch nur wartest bist Du aus dem Park wieder zu hause bist, ist es wie bei den Träumen, sie haben sich verflüchtigt.
Der Zweck dieses Textes ist ausschließlich, dass Du bei Deinem nächsten Üben, wieder dort ansetzen kannst, wo Du das letzte Mal aufgehört hattest. Erfahrungsgemäß beginnen Tai Chi Übende, die in das Bergwerk der inneren Arbeit einfahren, jedes Mal wieder ganz von vorne. Mit Hilfe Deiner kurzen Übungsnotiz, kannst Du beim nächsten Üben genau dort im Stollen beginnen, woDu zuletzt aufgehört hattest.
Eine solche Notiz könnte z.B. so aussehen:
Tai Chi Form:
* Im Stehen vor der Form habe ich nach einer Weile plötzlich das innere Fließen hören können. Ein murmelndes Plätschern. Ich habe das zum ersten Mal gehört. Ich war überrascht. Es war sehr schön.
* Während der Form bin ich zu schnell geworden. Bei der schwierigen „Peitsche“ habe ich das gemerkt und bin dann wieder langsamer geworden. Es war schön mich plötzlich wieder zu spüren, anstatt die Form wie einen Job zu machen.
* Ich will das „Schulter Schlucken“ bei der „Peitsche“ noch mal üben. Ich kriege es ganz gut hin, merke aber dass ich dabei ins Hohlkreuz falle.
Das Ganze könnte aber auch noch viel kürzer sein:
Tai Chi Form:
* Plätschern!
* Langsam!
* Nächstes Mal „Schulter schlucken“ üben. Hohlkreuz.
Es reicht also, dass Du selbst beim nächsten Mal verstehst was Du Dir sagen wolltest. So eine schöne Erfahrung wie das Plätschern kann sehr beglückend sein. Wenn so etwas aus Deinem Üben heraus entsteht, ist das eine Übersetzung Deines Körpers für Dein Bewusstsein. Du kannst auf diese Weise etwas erleben, das in ihm stattfindet. Es ist also mehr als nur eine angenehme und zufällige Überraschung. Es kann der Beginn eines fruchtbaren Fühl-Gespräches mit Dir selbst sein.
Allerdings ist es auch gut möglich, dass Du Dich beim nächsten Mal einfach nicht mehr daran erinnern würdest. Du wärest mit etwas anderem beschäftigt und würdest dieses Plätschern möglicherweise nie wieder zu hören bekommen. Mit Hilfe Deines Übungstagebuches wirst Du jetzt aber, jedes Mal direkt bevor Du übst noch einmal nachlesen was Du zuletzt gemacht hattest, um dort fortfahren zu können. Mein eigenes Üben ist durch mein Übungstagebuch sehr bereichert worden.
Beipackzettel Heilmittel Tai Chi
Zusammensetzung
Arzneilich wirksame Bestandteile:
Erfahrungswissen bestätigt das Wirken von “Chi”. Zugleich kann dieses “Chi” nicht mit zur Zeit anerkannten Methoden nachgewiesen werden.
Vermittels des “Chi” wird ein sinnliches Verhältnis zu ebenso unnachweisbaren Kräften, wie “Himmel” und “Erde”, und zum “Raum” erlebt. Der “Raum” wiederum belebt sich durch das Chi der Dinge, Pflanzen, Tiere und Menschen.
Allein die Langsamkeit einer bewusst ausgeführten Bewegung ist ein wirksamer Bestandteil der Übung.
Wirksam ist auch die aufmerksame Wiederholung von genau erlernten Bewegungsmustern.
Ebenso Bestandteil der Wirkung ist das lernen in der Gruppe, das Überprüfen durch Übungspartner und den Lehrer.
Zentraler Wirkstoff ist die den Naturgesetzten und der natürlichen Beschaffenheit des Körpers folgende Bewegung.
Je nach Ausführungsart werden die Körperbewegung an verschiedene geistige Systeme angebunden. Oft finden Yin und Yang, der Daoismus, fünf Elemente, Konzepte aus der TCM oder anderen Bereichen der chinesischen Philosophie.
Verwendung.
Ein unerlässliches Bindemittel zum erfolgreichen Wirken der Einzelkomponenten ist eine sinnvolle Verknüpfung aus Glauben, Wissen, Erfahrung und eigenem Empfinden.
Das ganze Wirkgeschehen folgt einer dem Körper innenwohnenden kosmischen Harmonie, die durch die Übungen angeregt, zu Balance und Glück strebt.
Sonstige Bestandteile:
Ein Übungsraum, der Frieden und Ruhe ausstrahlt.
Eine unkomplizierte und menschlich angenehme Organisationsform.
Bequeme Kleidung die den Körper nicht behindert und dem Geist ein beruhigendes Außen bietet.
Das hoffentlich berechtigte Vertrauen in die Kraft des Lehrers, in die Lehrer der Lehrer und die Schule.
Darreichungsform und Inhalt:
Die Packungsgrößen reichen von Tai Chi-Beimischungen in Tanz- oder Theater- Workshops bis hin zu lebensbegleitenden Großpackungen, aus denen nachweislich über einen Zeitraum von über 80 Jahren geeignete Mengen für den täglichen Verzehr entnommen werden können.
Wirkungsweise und Indikationsgruppe:
Allgemein harmonisierendes Generalpräparat aus der Gruppe der körperlich spirituellen Kampf- und Bewegungs-Künste.
Pharmazeutischer Unternehmer:
Fragen sie bitte ihren Tai Chi-Lehrer oder Veranstaltungsorganisator.
Hersteller:
Verschiedene legendäre Entwickler werden genannt. Es gibt auch einiges an geschichtlicher Forschung über die eher jüngeren Patenthalter und Weiterentwickler des Tai Chiquan. Diese Forschungen stammen zum großen Teil aus dem Bereich der “oral history” und variieren je nach Familienzugehörigkeit.
Sogar die heute lebenden Entwickler sind sich oft selbst nicht im Klaren über den eigenen Beitrag in ihrer Kunst, da es auch keine allgemeingültige Vorstellung von der Wirkformel des Tai Chi gibt.
Immer wieder gibt es die Behauptung von der Allgemeingültigkeit der sogenannten “Tai Chi-Prinzipien”. Tatsächlich werden die Prinzipien aber sehr unterschiedlich interpretiert
und führen auch zu unterschiedlichen Qualitäten und Wirkweisen. Allgemeingültig ist
nur erstens: die Behauptung der Allgemeingültigkeit der Tai Chi-Prinzipien. und
zweitens: das gutes Tai Chi überhaupt aus Prinzipien abgeleitet wird und nicht aus
Techniken oder Formen. Erläuterung: Eine Tai Chi-Bewegung würde sich eher über das
Prinzip des Voll und Leer bzw. Yin und Yang erklären. Nicht so im Vordergrund stünde
die Frage mit welcher Fausttechnik angegriffen und abgewehrt wird. Ebenso stünde in
der Tai Chi-Form nicht so im Vordergrund welche Position genau der Ellenbogen im
Verhältnis zur Schulter einnehmen muss.
Außerdem gibt es die “klassischen Tai Chi Texte,” deren Studium angeblich zu den
Quellen des Tai Chi führen soll. Diese Texte bieten einen solchen
Interpretationsspielraum, dass der eigenen Tai Chi -Entwicklung damit wenig Richtung
gewiesen und wenig Widerstand entgegen gesetzt wird. Sie dienen vornehmlich zur
Bestätigung der eigenen Vorstellungen.
Anwendungsgebiete:
Bei dem Wunsch nach Erdung und Ruhe.
Bei der Bereitschaft zu sich zu kommen und die eigene Mitte zu stärken.
Bei der Sehnsucht aus Verwirrung und Anstrengung zu Klarheit und Mühelosigkeit zu
kommen.
Auch bei dem Wunsch nach einer körperlich erlebbaren Gottesnähe.
Ebenso bei dem Wunsch zu Kämpfen ohne zu kämpfen. Besonders die Zarten und
Schwachen haben hier die Aussicht eine alltagswirksame Kampffähigkeit zu erlangen
ohne das ihnen ihr muskuläres Defizit oder ihre friedliche Grundhaltung dabei im Wege
stehen würden.
Gegenanzeigen:
Wann dürfen Sie Tai Chi nicht einnehmen?
Bei dem ausgeprägten Wunsch ein Leiden aufrecht zu erhalten. Es wird zu einem
unlösbaren Zielkonflikt kommen.
Bei akuter Psychose z.B. Manie, Wahnvorstellungen…
Wann dürfen Sie Tai Chi erst nach Rücksprache mit ihrem Arzt einnehmen?
Es gibt eine ganze Reihe von Diagnosen, die nach gängiger schulmedizinischer
Vorstellung mit dem Ausüben von Tai Chi nicht vereinbar sind. So Leiden bei denen
Bettruhe verordnet wird, wie bei akutem Bandscheibenvorfall… Allerdings hat sich die
Auffassung der Schulmedizin bei solchen Fällen in den letzten Jahren sehr verändert.
Diagnosen die vor 30 Jahren eine Therapie im Gipsbett nach sich zogen, werden heute
gezielt mit Bewegung behandelt. Wichtig ist, dass in solchen Fällen oftmals eine
spezielle Art der Tai Chi-Ausübung notwendig ist. So ist etwa ein hoher Stand, kurze
Übungszeiten, Tai Chi im Sitzen oder zunächst nur ein mentales Üben angemessen.
Für spezielle Bedürfnisse sind spezielle Lösungen erforderlich, die ein erfahrener Tai
Chilehrer dann bedarfsgerecht entwickeln wird.
Was müssen sie in der Schwangerschaft beachten?
Sollten sie in der Schwangerschaft Tai Chi ausüben, wird sich das auf ihr Wohlbefinden
und das ihres Kindes positiv auswirken. Allerdings ist damit zu rechnen, dass das so
ausgetragene Kind besonders bewegungsbegabt wird und Sie dementsprechend, wenn
das Kind zu krabbeln und laufen beginnt, einen erhöhten Sicherungsbedarf haben
werden.
Ebenso werden möglicherweise vermehrt Hosen verschlissen.
Was müssen sie in der Stillzeit beachten?
Alle Vorgänge, die mit Chi zu tun haben werden verstärkt wahrgenommen. Das Stillen
ist eines der stärksten natürlichen Chi-Erlebnisse. Viele Männer werden Sie um dieses
Erlebnis beneiden.
Was ist bei Kindern zu berücksichtigen?
Die Tai Chi-Form ist langweilig. Eltern, die Tai Chi spielen, sind langweilig.
Kindgerechte Anwendungen des Tai Chi dagegen sind unterhaltsam so etwa
“Babywerfen” “Tai Chi-Freikampf” oder “Nudelbalancetanz” u. ä..
Ich persönlich empfehle die Übungen auf meiner Kinder-Tai Chi DVD. Andere Anbieter
haben andere Formen von Kinder-Tai Chi entwickelt, das zum Teil aus Büchern oder in
Fortbildungen erlernt werden kann.
Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung und Warnhinweise sind bitte zu beachten.
Welche Vorsichtsmaßnahmen müssen beachtet werden?
Hochsensible Menschen sollten sich vor Überreizung in Acht nehmen. Gerade in
Gruppen gilt es sein individuelles Maß an Erregbarkeit richtig einzuschätzen. Übungen
die für die meisten Praktizierenden harmlos sind, können bei hochsensiblen Übenden
starke Reaktionen hervorrufen. Jede Form von Überreizung ist zu Vermeiden.
Ehrgeizige Menschen sollten solange ihren Ehrgeiz zügeln, bis sie sicher darin sind, wie
viel ihres Ehrgeizes dem Körper zuträglich ist.
Menschen mit wenig Selbstvertrauen sollten nicht zu früh aufgeben. Das Vertrauen
wächst im Verlauf der Übungen.
Sehr verspannte und muskulär verhärtete Übende sollten sich nicht wegen dieser
Voraussetzungen schlecht fühlen. Weich werden ist schön. Sie haben also besonders
viel Schönes vor sich.
Ungeduldige Übende sollten sich Zeit lassen. Angenehme Lebensprozesse werden
nicht besser dadurch, dass man sie beschleunigt. Veränderungen durch Tai Chi sind
Wachstumsprozesse, die am besten verlaufen, wenn sie ihrem eigenen Rhythmus
folgen.
Während des Tai Chi-Unterrichts sollten sie sich trauen eine selbstgewählte Pause
einzulegen. Ebenso sollten sie sich trauen Übungen auch anders als verlangt
auszuüben um ihren Bedürfnissen zu entsprechen.
Merke: Vertrauen Sie ihrem Lehrer aber vertrauen sie noch mehr sich selbst.
Was müssen Sie im Straßenverkehr sowie bei der Arbeit mit Maschinen und bei
Arbeit ohne sicheren Halt beachten?
Im Straßenverkehr werden sie den Fluss stärker spüren und genießen. Sollte der Fluss
behindert sein, werden sie auch das stärker empfingen. Es ist damit zu rechnen, das sie
körperlich aktive Formen der Fortbewegung den Unaktiven vorziehen werden, z.B.
Treppe statt Fahrstuhl, Fahrrad statt Auto… Dies kann zu Konflikten mit Nicht-Tai Chi-
Spielern führen.
Sie werden Lust an Bewegungen wie Tragen, Wischen, Kneten, Balancieren,
Schwingen… entwickeln. Es wird sich vermutlich Unlust bei Bewegungen wie Klicken,
An- und Ausschalten… einstellen.
Lärm, schlechte Luft, schlechte Gerüche und schlechte Atmosphäre wird vermutlich
stärker wahrgenommen und kann zu Problemen am Arbeitsplatz führen.
Arbeiten ohne sicheren Halt werden zunehmend lustvoll empfunden. Hierbei sollte der
Übende nicht in Selbstüberschätzung verfallen. Etwa das springen in Baumkronen mit
laufender Kettensäge u.ä. sind unabhängig vom Lustempfinden sehr gefährlich.
Worauf müssen Sie noch achten?
Rechnen sie damit, dass ein Zugewinn an Beweglichkeit und Wohlempfinden bei Ihnen
nicht von allen Personen ihres Umfeldes als angenehm erlebt wird.
Wechselwirkungen mit anderen Mitteln?
Es gibt Theorien und Übungen aus der Krankengymnastik, die dem Tai Chi direkt
entgegengesetzt sind. Dinge, die sich im Geist direkt widersprechen, lassen sich im
Körper erstaunlicher Weise oft miteinander vereinen.
Es gibt körperliche und geistige Ansätze, die sich von Tai Chi-Stil zu Tai Chi-Stil, direkt
widersprechen. Einander widersprechende Ansätze sind ein Übungsfeld für die eigene
geistige und körperliche Wendigkeit. Ebenso bietet diese Unterschiedlichkeit in den
Ausprägungen des Tai Chi auch eine Richtungsorientierung für den Übenden.
Es wird empfohlen der Richtung zu folgen, die am sinnvollsten und angenehmsten
empfunden wird.
Welche Genussmittel, Speisen und Getränke sollten sie meiden?
Chinesische Lehrer empfehlen auf den Genuss von sehr kalten Getränken ganz, sowie
auf sexuelle Aktivitäten weitgehend zu verzichten.
Entgegengesetzt zu chinesischen Vorstellungen ist auch die Auffassung weit verbreitet
man solle auf den Verzehr von Fleisch verzichten.
Wünschenswert ist die eigene Wahrnehmungsfähigkeit und Entscheidungskraft durch
Tai Chi auszubilden. Der Verzehr von kalten Getränken, das Ausüben sexueller
Aktivitäten sowie der Genuss von Fleisch haben Auswirkungen auf Körper, Geist und
Wohlbefinden.
Diese Auswirkungen sind allerdings individuell unterschiedlich. Ebenso gibt es einen
Unterschied zwischen kaltem Getränk und kaltem Getränk und so weiter.Eine allgemein
moralische Orientierung weicht einer durch eigenes Empfinden gesteuerten
Orientierung.
Auf diese Weise entsteht ein amoralisches, also unabhängig von genormter Moral
geleitetes Verhältnis zu Genussmitteln, Speisen und Getränken.
Dosierungsanleitung, Art und Dauer der Anwendung.
Wieviel und wie oft sollten sie Tai Chi einnehmen?
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Einnahme des Heil und
Lebensmittels Tai Chi und seiner Wirkung.
Allgemein gilt: Wenn Tai Chi nicht ausgeübt wird, wirkt es nicht.
Gerade zu Beginn des Übens kann eine starke Reaktion erfolgen.
Bei verstärkter und regelmäßiger Einnahme verstärkt sich die Wirkung, bis dass
gewünschte Maß erreicht ist.
Ebenso allgemein gilt. Tai Chi-Entwicklungen werden nicht besser, indem man sie
schneller durchläuft.
Den meisten Übenden tut das Praktizieren von Tai Chi gut. Dennoch üben sie nicht so
oft wie sie es von sich selbst wünschen. Dieses Phänomen ist weit verbreitet. Es gibt
verschiedene Vermutungen über seine Ursache. Allerdings wird an diesem nicht
unwichtigen Teilaspekt des Tai Chi noch geforscht, ohne dass bislang befriedigende
Lösungen gefunden wurden.
Es wäre wünschenswert, das der Übende Zufriedenheit in der Art seines Übens findet.
Die Übungshäufigkeit variiert von Schule zu Schule, Übenden zu Übenden und auch im
Verlaufe des Übungsweges eines Tai Chi-Spielers.
Nach einer gewissen Ausübungsdauer beginnt das Tai Chi sich selbst zu entwickeln,
auch und gerade in Zeiträumen in denen man es nicht ausübt.
Wie und wann sollten sie Tai Chi einnehmen?
Besonders geeignete Zeiten sind der frühe Morgen, bevor andere Verpflichtungen mit
dem
Tai Chi konkurrieren, in Stille und Morgennebel.
Ebenso empfehlen wir die Zeit vor dem Einschlafen, da dann die Tai Chi-Wirkung in
den Schlaf hinein verlängert wird.
Geeignet sind auch fest verankerte Zeiten im Tagesablauf.
Geeignet sind auch zeitunabhängig schöne Orte in der Natur. So kann man auf Reisen
oder auf seinen alltäglichen Wegen Orte aufsuchen, die die Natürlichkeit des Tai Chi im
Innen durch die Schönheit der Natur im Außen verstärken.
Schaffen Sie einen Raum in ihrem Zuhause in dem sie ihre Tai Chi-Form immer in die
selbe Himmelsrichtung ausüben. Ein vertrauter Raum wirkt wie Mutterboden für sich
bildendes Wurzelwerk.
Wie lange sollten sie Tai Chi einnehmen?
Es wird eine lebenslange Einnahme empfohlen. Insofern wird die Einnahmedauer sowie
die Lebensdauer durch einen frühen Beginn optimiert.
Erfreulich ist aber, dass der Beginn der Einnahme auch in späten Jahren erfolgen kann.
Im Gegensatz zu vielen konkurrierenden Angeboten gibt es so gut wie keine
körperlichen Mindestvoraussetzungen. Gegebenen Falls muss die Tai Chi-Form den
Möglichkeiten der Anwender angepasst werden, z.B. Rollstuhl- oder demenzgerecht…
Überdosierung und andere Anwendungsfehler:
Eine Überdosierung ist theoretisch möglich, praktisch tritt aber eher das Problem der
Unterdosierung auf.
Als Anwendungsfehler ist die rein mechanische Ausführung der Bewegung anzusehen.
Auf diese Weise ist es möglich die komplexen positiven Wirkungen des Tai Chi auf rein
gymnastische zu reduzieren.
Ebenso als Anwendungsfehler ist es anzusehen, wenn Tai Chi ausgeübt wird, um eine
überlegene Fähigkeit im Kampf zu erlangen. Diese Fähigkeit ist zwar erreichbar, führt
aber zur Manipulation des Gegenüber, zur Manipulation des Selbst und zu überlegener
Einsamkeit. Sofern Tai Chi nicht als Überlebenstechnik gegen Räuber und/ oder
Wegelagerer verordnet ist, erreicht der Anwender durch eine solche Ausrichtung eine
überflüssige Wirkung und eine unerfreuliche Nebenwirkung.
Ein naheliegender Anwendungsfehler ist, die bereits im bisherigen Leben vorhandenen
Muster im Tai Chi zu wiederholen. Um dieser Neigung entgegenzuwirken wird
empfohlen die Tai Chi-Entwicklung durch Push hand zu begleiten. Eine sowohl offensiv
Disbalancen lösende, sowie freundlich schützende, menschliche Atmosphäre ist
dringend empfohlen.
Ein weiterer naheliegender Anwendungsfehler ist es, Tai Chi so lange einzunehmen bis
die Wirkung spürbar am entscheidenden Punkt angekommen ist, um es vor der
Entfaltung der Wirkung dann zu beenden.
Merke: Es ist vergleichsweise leicht an der Lösung des Leidens zu arbeiten. Ungleich
schwerer ist es die eintretende Lösung dann auch anzunehmen.
Nebenwirkungen
Welche Nebenwirkungen können durch Tai Chi auftreten?
Es ist festzustellen, das Dinge, die man loslässt in Bewegung geraten. Diese Bewegung
entzieht sich, dadurch, dass sie durch Loslassen verursacht wurde, der Kontrolle. Die
so ausgelöste Bewegung strebt ihrer natürlichen Ordnung zu, was im höheren Sinne
angestrebt ist. Beim Betroffenen löst diese Art natürlicher Ordnung und Freiheit der
Kräfte aber in Verbindung mit dem entstehenden Kontrollverlust Angst aus.
Bestehende Ordnung, die auf Kraftaufwand, Haltearbeit und Stauleistung beruhte, löst
sich auf. Vergleiche: Eis – Wasser.
Ein Loslassen in einem Bereich bewirkt zunächst oftmals eine erhöhte Last in einem
anderen Bereich. So ist im Fortschreiten des Lösungsprozesses immer wieder mit
zwischenzeitlichen Lastspitzen in verschiedenen körperlichen uns seelischen Bereichen
zu rechnen. Gute Balancearbeit von Tai Chi-Lehrer und Übendem hilft diese
Lastspitzen zu mildern.
Welche Gegenmaßnahmen sind bei Nebenwirkungen zu ergreifen?
Sollte die Nebenwirkung darin bestehen, dass eine angestrebte, positive Veränderung
tatsächlich eintritt, dann allerdings so beängstigend wirkt, dass ein Eintreten der
Wirkung unbedingt vermieden werden soll, so ist ein Abbruch der Tai Chi-Übungen zu
empfehlen.
Sollte der Tai Chi-Prozess vorübergehend zu Überlast oder Lustlosigkeit führen, so ist
ein unbefristetes Pausieren möglicherweise eine gute Wahl.
Push Hands
Wie kannst Du gutes Push Hands spielen
Tai Chi ist dafür entwickelt worden um in einer tödlichen Auseinandersetzung durch Wahrnehmung und Durchlässigkeit überlegen zu sein.
Es gibt diese Aufgabenstellung in unserer heutigen Welt nicht mehr und wir sollten also auch die innere Ausrichtung überprüfen.
Heute ist es für unser gutes Leben wichtiger ob wir uns selbst und den anderen spüren können um mit ihm zu einem guten Miteinander zu finden.
Wie können wir dieses gute und einander fördernde Miteinander in der Kampfkunst Tai Chi und im Push Hands verwirklichen?
Dazu ein paar Erfahrungen, die ich hier zu Regeln zusammengestellt habe:
* Du sollst nicht zwingen
Weil der erste Gezwungene Du selbst sein musst.
* Du sollst nicht lehnen
Denn wenn Du pushst, in dem Du lehnst, hast Du zuerst Dich selbst umgeworfen und diese Disbalance dann dem Anderen aufgeladen.
* Du sollst keine Techniken einsetzen
Denn wenn sich zwei Menschen begegnen, wäre es schade, wenn weder der eine noch der andere Mensch in der Begegnung anwesend ist, sondern nur eine Technik.
* Du sollst nicht weggehen – Du sollst nicht gegen gehen
Sondern lerne die Kraft des Anderen anzunehmen und durch sie bereichert zu werden.
* Gehe niemals zurück
Es gibt nur eine Richtung: Vorwärts!
Sei wie das Wasser, das immer dem Meer zustrebt.
Du bist das Wasser, der Andere das Meer.
Innerlich ist das Wasser so beständig, wie nichts anderes auf seinem Weg.
Äußerlich folgt es allen Bedingungen und Widerständen, die ihm begegnen.
So auch beim Pushen: Für den inneren Weg. Für dein „Vorwärts“ bist Du allein verantwortlich. In der äußeren Erscheinung sei offen für jede entstehende Wandlung.
* Benutze die Arme nicht
Bewege die Arme aus Deiner Mitte, als wären sie eine Außenhülle Deines sehr dicken Bauches.
* Nicht greifen
Ein Griff ist immer eine Verspannung Deines Daumens gegen die Finger. Ein Griff ist ein kleines Zwingen mit den entsprechenden Folgen.
* Mach Dir kein Bild von der Welt
Lerne keine Angst zu haben, keinen Plan, keinen Ehrgeiz und kein Wissen.
Sei in dem was geschieht, was immer das ist.
* Ware die Grenzen Deines Partners
Dosiere Kraft und Tempo so, dass Dein Partner spüren kann was geschieht.
* Lehre Deinen Partner Dir ein guter Partner zu sein
Erwarte nicht von Deinem Partner, dass er spürt was Du brauchst.
Zeige deutlich was Du brauchst um Dich sinnvoll entwickeln zu können.
* Nicht zu viel Kraft – nicht zu viel Schnelligkeit
* Rede wenig
Push Hand ist ein Weg des Körpers. Du lernst ein wesentliches und sehr intimes Gespräch mit dem Körper zu führen. Ersetze nicht Spüren durch Reden.
* Unterrichte nicht den, der nicht unterrichtet werden möchte
* Meide Menschen, die Dir schaden
Du kannst immer auf die Toilette gehen.
* Verstecke Dich nicht
Lass Deinen Partner immer alles über Deinen Zustand wissen. Lass die Anderen in Dein Zentrum. Wenn Dein Zentrum geerdet ist und Du in Frieden mit Dir selbst bist, kann Dir nichts geschehen.
* Ein guter Push wird durch den Unfrieden im Gepushten ausgelöst.
Ein solcher Push enthält wichtige Informationen für den Gepushten und weist den Weg zu innerem Frieden.
* Es gibt keinen Push
Deine Fließrichtung auf das Zentrum des Partners enthält immer auch die Potenz zum Push. Ausgelöst wird der Push durch den Anderen. Du selbst fließt in dem Push, nicht anders als davor oder danach.
* Finde eine guten Übungspartner
Wer 4-blättrige Kleeblätter finden kann, findet auch einen guten Übungspartner.
Kung Fu – Gong Fu
Üblicherweise wird es Kung Fu ausgesprochen. Meine Lehrerin Christel mahnte mich aber immer es traditionell chinesisch auszusprechen: „Gong” bedeutet Arbeit. „Fu” bedeutet „Vollkommenheit.” Gong Fu ist die Arbeit an der Vollkommenheit.
Wir kennen das Kung Fu nur als eine bestimmte äußere Kampfkunst, die Mutter des Tai Chi.
Gong Fu ist aber ein philosophisches Prinzip, eine bestimmte Einstellung zum Leben.
Für mich spielt dieses Gong Fu eine ganz zentrale Rolle:
Was auch immer ich tue, tue ich in der Haltung des Gong Fu. Das bezieht sich nicht nur auf mein Tai Chi sondern auch auf ein Gespräch das ich führe, und die Art wie ich eine Flasche anfasse um mir ein Glas Wein einzugießen. Für mich wird das Leben und Arbeiten auf diese Weise zum Spiel. Ich freue mich an der Aufgabenstellung und am Gelingen ebenso wie am Verlieren.
Kinder die lernen mit Holzklötzen zu bauen, versuchen sich am Erlernen der Statik. Immer versuchen sie etwas, das sie eben noch nicht konnten. Natürlich gibt es auch mal Tränen, wenn ein Turm einstürzt. Das hält aber kein Kind lange davon ab es aufs Neue und noch höher hinauf zu versuchen. Ist der Turm fertig, kann man ihn einschmeißen. Es geht mehr um die Haltung beim Machen, als um ein bestimmtes Ergebnis. Das Ergebnis ist nur die Aufgabenstellung unter der das Machen dann eine Richtung bekommt und Spaß macht.
Erwachsene und auch meine Tai Chi Schüler empfinden beim Gong Fu oft etwas vollkommen Anderes. Aus „Arbeit an der Vollkommenheit” wird etwas wie „Du solltest vollkommen sein”. Verstehst Du das Gong Fu so, wertet es Dich in Deinem jetzigen Zustand ab und gibt Dir die Aufgabe etwas Unerreichbares zu erreichen. Auf den Horizont zuzugehen ist etwas vollkommen anderes als ihn erreichen zu wollen.
So wirst Du nie einen befriedigenden Zustand erreichen können, denn was auch immer Du erreichst, es wird immer jemanden geben der es besser kann oder besser könnte.
Die Vollkommenheit anzustreben macht nur Sinn, wenn sie Dir eine Richtung vorgibt, einen Weg, auf dem der wichtigste Punkt immer der ist, auf dem Du Dich gerade befindest.
Es ist nicht leicht Dich selbst in dem Zustand zu lieben in dem Du gerade bist. Viele Menschen lieben sich nur für das, was sie sein könnten oder vielleicht auch für das was sie erreicht haben. Das bist aber nicht Du und Du wirst es auch nie sein.
Empfinde Lust an Dir selbst und Deinem jetzigen Tun. Damit hast Du die besten Aussichten Dich der Vollkommenheit anzunähern ohne das es darum geht sie zu erreichen. Auf einer Wanderung ist nicht ein Teil des Weges der dichter am Ziel ist besser als einer der mehr am Anfang liegt. Das Gehen selbst und die Freude daran, geben der Wanderung und damit auch dem Ziel seinen Sinn.
Es ist fein, wenn Du durch die Haltung des Gong Fu zu sehr guten Ergebnissen kommst, etwa Deine Tai Chi Form sehr gut laufen kannst oder gut pushst. Das erreichte Ergebnis hat aber nur Sinn, wenn es nicht um das Erreichen dieses Zieles gegangen ist.
Vollkommenheit, die den unvollkommenen Jetzt-Zustand nicht einschließt, schafft ein unerreichbares Ziel und wertet alles andere als Unwert ab. So eine Vollkommenheit ist zerstörerisch.
Vollkommenheit, die den unvollkommenen Jetzt-Zustand mit einschließt, strahlt Sinn und Richtung auf den Moment aus.
So wollen wir uns im Gong Fu üben.
Tränen
Was, wenn beim Tai Chi jemand weint?
So wie wir Tai Chi spielen kommt es immer mal wieder vor, dass jemandem die Tränen kommen.
Was dann?
Oft versuchen die Weinenden gegen ihre Tränen anzukämpfen.
Die Anderen sind manchmal erschrocken und fragen sich ob sie etwas falsch gemacht haben oder etwas Schlimmes passiert ist.
Vor ein paar Wochen habe ich eine neue Ausbildung begonnen. Eine der Teilnehmerinnen rief mich 2 Stunden nach Ende des ersten Wochenendes an: Sie wollte aus der Ausbildung aussteigen. Warum? Kaum zu hause waren ihr die Tränen ausgebrochen und sie wusste noch nicht einmal warum. In ihrer Familie war es sehr unüblich zu weinen. Alle waren in höchster Alarmbereitschaft. Etwas Schlimmes schien passiert zu sein, aber was?
Beim Tai Chi üben wir loszulassen. Ein entscheidendes Merkmal davon ist, dass die Dinge, die du loslässt ihre Position verändern, ins Fließen kommen, vielleicht zuerst ins Weinen, vielleicht zuerst ins Lachen. Da sich aber Lachen und Weinen wie Berg und Tal gegenseitig bedingen, kann man nur beides unterdrücken oder beides zulassen.
Ich selbst habe 20 Jahre meines Lebens nicht weinen können. Manchmal stieg mir ein heißer, stechender Schmerz in den Hals. Oft litt ich unter Heiserkeit und schwacher Stimme. Mein Lachen war in diesen Jahren ein einziges „Ha“! Ich beneidete Menschen die herzhaft lachen konnten und wollte Menschen helfen die weinten.
Ich erinnere mich an das erste Weinen das sich aus meinem Inneren hervorquälte. Die Wassermenge reichte noch nicht einmal für eine Träne und erschöpfte mich doch vollkommen wie ein schweres Fieber. Über einen längeren Zeitraum kamen nach und nach beides, Lachen und Weinen und schwemmten mir Lebendigkeit zu, die ich zuvor nicht bewusst vermisst hatte.
Wenn also im Tai Chi Unterricht Tränen fließen sollte der Lehrer ausstrahlen, dass hier Raum für die Tränen ist. Kein Grund sich zu schämen. Kein Grund sich Sorgen zu machen. Kein Grund eine Abhilfe zu schaffen. Oft noch nicht einmal ein Grund für Beistand. Die Tränen gehören dem Weinenden selbst. Wir lernen uns in Liebe selbst anzunehmen und dazu gehören auch die Tränen.
Die Schüler die den Raum mit dem Weinenden teilen sollten mit dieser Energie gehen. Jeder trägt ungeweinte Tränen in sich und es ist eine Chance mit in die reinigende Energie des Weinens zu gehen, während du deine Form läufst oder in einer Übung bist. Sei dem Weinenden dankbar für seinen Mut und seine Bewegung.
Allerdings – habe ich von einer alten Regel gehört: Wenn du durch die Straßen gehst und begegnest einem Trauerzug, so sollst du dich ihm anschließen und die Trauer teilen. Sollte dann aber der Trauerzug einem Hochzeitszug begegnen, so sollst du von dem Trauerzug lassen und mit der Hochzeit gehen. Mit anderen Worten, verpasse den Moment nicht, wenn Deine Trauer der Kraft weicht.
Manchmal verlieren sich Weinende in der Trauer und vergraben sich in den Schmerz. Der Schmerz ist nicht dein Ziel, er ist ein Teil deines Weges. Tai Chi Spieler sind Kämpfer. Das Loslassen führt uns zu Aufrichtung und das Weinen zu Mut. Das Lachen, das durch die Tränen kommt ist wunderschön, wie die Sonne die im regennassen Gras glitzert.
Daniels Lehrer
Ich habe von vielen Menschen gelernt, meine fünf wichtigsten Lehrer waren:
Frau Frank
(Text folgt)
Christel Proksch
Sie war meine Großtante, meine Lehrerin und mein Vorbild für ein wildes, schönes Leben.
Ohne Christel hätte mein Leben vollständig anders ausgesehen. Das was ich heute meinen Schülern zu geben habe, habe ich von Christel empfangen und entwickle es auf meine Weise fort.
Christel war eine Lebenslehrerin voller Charisma und Feuer. Sie war verliebt in den Augenblick und hat viele Menschen in ihrem Umfeld in diese Liebe mit hinein genommen. Am 8. Sep 2010 hat sie ihren Körper zurück gelassen. Es ist schön ihr Schüler zu sein.
Christel Prokschs Mutter war auch die Mutter meiner Großmutter.
Ich war schon als kleines Kind fasziniert von der Lebendigkeit und Weltoffenheit ihrer Familie. Eine die Großfamilie erschütternde Liebesgeschichte von Christel führte sie nach Asien. Sie, damals 50 und ihr Geliebter, damals 18 waren nach Asien geflohen und hatten dort einen ganzen Kontinent für ihre Liebe und das Entdecken der Welt.
Nach ein paar Jahren kam Christel in ihre Heimat zurück und brachte das Tai Chi mit. Damals war das so fremd und exotisch wie es nur sein konnte.Christel hatte nur ein paar Monate Zeit gehabt es bei ihrem verehrten “Koch” in Taiwan im Park zu erlernen.
Dieser Koch war ein Schüler Cheng Man Chings gewesen und hatte Christel die Form beigebracht und sie als besondere Anerkennung hier und da auf den Boden geschleudert. Außerdem hatte Christel Chinesisch und Kalegraphie erlernt.
So aufgeladen kam Christel zurück und faszinierte die Menschen in ihrem Umfeld. Studenten, aber auch Anwälte, Ärzte, Psychologen, Kampfkünstler und Künstler drängten sich in ihren Kursen.
Wer zu Ihr kam lernte das Loslassen, ein Gut, das in den 80er Jahren noch sehr neu war. Ihre Schüler waren zu tiefst bewegt von Ihrem Karisma und der seltsamen langsamen Bewegung. Die Leben der Schüler veränderten sich durch dieses “Loslassen”. In ihren Kursen verliebten sich die Menschen, es entstanden Paare, ebenso, wie sich Menschen trauten los zu lassen von erstarrten Verbindungen.
Ich lernte bei ihr, lebte zum Teil bei ihr, reiste mit ihr, unterrichtete und atmete mit ihr den Geist des Entdeckens. Mit Christel zusammen zu sein bedeutete die Welt als Wunder und Abenteuer zu erleben.
Sie wollte keine Tai Chi Expertin sein, auch wollte sie, als ich das Tai Chi Netzwerk ins Leben rief daran nicht teilnehmen, obwohl sie uns noch den Namen gab. Ich hatte zuvor den umständlichen Titel “Asoziation zur Förderung des Tai Chi” gewählt.
Ohne Christel wäre mein Leben ganz anders verlaufen und das Tai Chi in Deutschland hätte andere Wege genommen.
Ihr dankbarer Schüler
Daniel
Rüdiger Nehberg
Lieber Rüdiger, Du warst einer meiner fünf Lehrer.
Was für ein Geschenk, Dich gekannt zu haben. Du warst der lebendige Beweis dafür, dass Unmögliches möglich ist. Du warst der Beweis dafür, dass man für große Taten nicht studieren muss, nicht schlauer sein muss als andere, nicht reicher, und Du hast zuletzt auch gezeigt, dass man dafür nicht jünger sein muss als andere.
Was Du mehr hattest als alle anderen Menschen die ich kenne: Du hattest Leidenschaft, Tatendrang, Witz, Charme, Spontanität und immer die Bereitschaft, es völlig anders zu machen als alle Fachleute.
Als uns der Polizeichef des Goldsucherdorfes warnte: diesen Fluss hinauf zu den Indianern zu fahren sei Selbstmord, sagtest Du nachher: Das geht in die richtige Richtung; als uns auch die Siedler, die Goldsucher und die Priester abrieten, stand Dein Plan fest. Schließlich machten wir uns heimlich und unerlaubt in Einbäumen flussaufwärts auf den Weg. Ein Begleiter, der sich in der Gegend gut auskannte, kehrte an einer großen Stromschnelle schließlich um und schrieb, nachdem wir 4 Wochen lang nicht zurückgekehrt waren an Rüdigers Frau einen Brief. In dem Brief fand sie eine Landkarte mit dem Fluss, den wir hinaufgefahren waren und drei Kreuzen an der Stelle wo wir vermutlich gestorben seien.
Rüdigers Frau nahm diesen Brief wie all die Überfälle, Schießereien, Haifischattacken und Kriegsgefangenschaften mit Fassung. Wusste sie doch, dass Rüdiger unsterblich war.
Die großen Geschichten über seine Überfälle, sein Krankenhaus, seine Atlantik- über- tretboot- fahrung kann man in seinen zahllosen Büchern nachlesen. Rüdiger liebte Geschichten und darin bin ich ihm verwandt. So will ich hier noch eine kleine Geschichte erzählen, die so ganz Rüdiger ist und die sicher in keinem Buch steht:
Wir kampierten an einer Brücke, wollten am nächsten Morgen von hier aus einen Urwaldfluss hinauf paddeln um einen Missionar zu besuchen der mit den Indianern lebte. Mit den ersten Sonnenstrahlen sprang Rüdiger aus seiner Hängematte auf. Wir beiden anderen staunten schläfrig über seine ungewöhnliche Betriebsamkeit. Rüdiger riss die große Machete aus der Erde sprang in den Wald und schlug ein paar dünne Zweige mit grünen Blättern von den Bäumen. Die rammte er mit Wucht und Geschick neben unserem Lagerfeuer in den Sandboden, dass ein kleiner Busch entstand. Wortlos schlug er dann auf herumliegende Plastikteile ein, eine pinke Ölflasche, die Reste einer blauen Wanne, er knautschte eine gelbe Bierdose… und steckte diese Splitter schließlich, kundig wie ein Florist, in den Busch neben dem Lagerfeuer.
Wir guckten ihn fragend an:
Willkommen an meinem Geburtstagt; lachte er. „Hier seht ihr meinen Geburtstagsblumenstrauß, frisch, bunt und lebendig.“
Und während wir noch versuchten, aus unserem Staunen herauszufinden, ergänzte er:
Und wisst ihr was das Beste ist? Die Grußkapelle der Bäckerinnung steht jetzt gerade vor meinem Haus in Wandsbeck und trötet ihr grausiges Happy Birthday… und ich bin nicht da!;
Lieber Rüdiger, Dich wird keine scheußliche Blasmusik mehr stören,
aber Dein Blumenstrauß und Deine kräftigen Umarmungen werden in mir weiterleuchten… solange ich lebe.
Daniel
Klaus Röhler
(Text folgt)
Ben Lo
Auf meinem Taiji Weg habe ich viele Lehrer gehabt, die wichtigsten aber waren: Christel und Ben Lo, sozusagen Yin und Yang. Ohne Christel hätte ich Taiji nie kennen gelernt, ohne Christel sähe mein Leben vollständig anders aus. Über Christel hörte ich auch zuerst von Ben Lo.
Der große Ben Lo. Der direkteste, engste, treueste, älteste Schüler des sagenhaften Chen Man Ching. Christel, die Mutige, fuhr einfach hin, nach Amerika, und nahm an seinem Sommercamp teil. 200 Übende aus der ganzen Welt kamen dort zusammen. Diese Camps waren legendär.
Ich selbst half solange, Christels Schule in Hamburg zu vertreten. Wir fieberten ihrer Rückkehr entgegen. Wir kannten das schon: Sie kam aus China, aus Hong Kong oder den USA zurück, voller Geschichten, Abenteuer, einmal sogar mit einem schönen Tibeter und jedes Mal änderte sich durch ihre Reisen etwas an ihrer Taiji Form. Wir staunten dann und lernten um und durften mit reifen mit unserer reifenden Lehrerin. Von Ben Lo kehrte sie zurück und sagte: „Der Mann ist schrecklich. Ein militaristischer Chinese, ein Menschenquäler. Ein Langweiler, ein uninspirierter, kleinkarierter Korinthenkacker.“
Großartig aber waren seine jungen, amerikanischen Hippie Schüler, die nach dem Unterricht, gegen die Empfehlung vom Meister, heimlich in den heißen Quellen baden gingen, die kifften und Lieder sangen, die mit dem Motorrad über die Küstenstraßen donnerten, die in Campern lebten, sich verliebten. Männer, die weinten, die nichts besaßen außer ihrem Rucksack und die nicht wussten, wie der nächste Tag aussah. Das war Ben Lo für sie: ihre Flucht vor ihm. Immerhin, eine Sache hatte sie in dem langen, amerikanischen Sommer von ihm gelernt. Beim „Schulterstoß“ in der Taiji Form, hatten wir immer, wie sonst überall in der Form auch, geradeaus geschaut, Kopf und Bauch in Verbindung und in dieselbe Richtung gewandt. Ben Lo aber, so berichtete uns Christel, habe an dieser Stelle „so kess über die Schulter geschaut“. Das hatte Christel gefallen und also schauten auch wir ab da bei dieser Stelle in der Form kess über unsere Schulter.
Fortgeschrittene Schüler mochte Christel nicht so gerne, sie wurden zu „Taiji Experten“, wie Christel uns schimpfte. Sie war an den Anfängen interessiert. Daran, Menschen den Blick zu öffnen, den Horizont zu erweitern, sie staunen zu lassen und sie das aller Selbstverständlichste neu entdecken zu lassen. So wurden diese Experten, bevor sie noch wirklich zu Experten hatten werden können, zu Lehrern oder zu Wanderern, in der weiten Welt des Taiji.
Es war mein alter, treuer und leidenschaftlicher Schüler Paul, der mir begeistert von Ben Lo erzählte. Paul war alt und weise genug, um Christel zu lieben und Ben Lo zu schätzen, beides in seinem weiten Herzen, das schon bald danach aufgehört hatte zu schlagen.
Heute weiß ich ein paar Dinge über Ben Lo, weiß aber nicht mehr woher. Ben Los Vater war streng, er stand den Polizeikräften in Taipeh vor. Ben Lo selbst war als junger Mann schwer erkrankt und so schwach geworden, dass er sein Fahrrad nicht mehr tragen konnte. Daraufhin vermittelte sein Vater ihn an den großen Meister Cheng Man Ching, der ja selbst auch seine Gesundheit dem Taiji zu verdanken hatte. Als Schüler von Meister Cheng Man Ching angenommen zu werden, war eine große Ehre und eine Strafe zugleich. Der Meister nahm sonst nur die besten und ehrgeizigsten Kampfkunst Enthusiasten bei sich auf. Er verlangte Dinge von Ben Lo, die für ihn aber einfach unmöglich waren. Der Unterricht, so erzählte Ben Lo, war kurz. Der Meister zeigte ihm ein Bild, eine Körperposition die er einnehmen sollte und ging fort. Ben Lo stand dann alleine in einem kleinen Raum und sollte die eingenommene Haltung nicht ändern, bis sich von innen Klarheit und Stärke einstellen würden. Die von Cheng Man Ching entwickelte Taiji Kurzform hat 37 Bilder. Bis zu dem Bild „Die Peitsche“ unterrichtete Cheng man Ching den kranken Sohn des großen Vaters. Ab da ging es nicht weiter. Als die Ehefrau des Meisters den leidenden Kranken in einer Pfütze aus Schweiß, alleine und stumm in seinem Übungsraum stehen sah, ging sie zu ihrem Mann und bat ihn um Milde für Ben Lo. „Wie soll ich ihm ein neues Bild beibringen, wenn er doch das Alte noch nicht kann“, soll dessen Antwort gewesen sein. Ben Lo hat Schläge bekommen, Kritik, Erniedrigung und schließlich… vollkommene Heilung. Er wurde der erste unter den Schülern des Meisters und dankte ihm diesen Weg mit einer Verehrung des „Professors“, so nannte Ben Lo seinen Lehrer, wie ich das nie wieder von einem Menschen zu einem anderen erlebt habe.
Der Professor war für seine Schüler kaum je als Lehrer da. Er ließ die Schüler in der Übungshalle ihre Position einnehmen und erlaubte nicht, dass sie sich regten. Dann setzte er selbst sich hin und las Zeitung. Wenn einer der Schüler umfiel, sollten andere ihn hinausschleppen. Wer die innere Kraft zum Stehen nicht fand, war es nicht wert unterrichtet zu werden. Die Schüler wussten: Er zeigte jedes Bild nur ein einziges Mal. Dabei nahm der Meister selbst die Körperhaltung ein, die die Schüler später verinnerlichen sollten. Sie hatten kurz Zeit zu schauen, dann ging der Meister fort und sie sollten das Gesehene üben. Da die Schüler erlebt hatten, dass nachher keiner mehr wusste, wie der linke Fuß gestanden hatte, wo das Knie und wo die Schulter gewesen waren, so teilten sie den Körper des Meisters untereinander auf . Und als dieser das nächste Bild zeigte, guckte jeder der Schüler nur auf das Körperteil, das ihm zugewiesen war. Gemeinsam bauten sie dann das Geschaute nachher wieder zusammen und versuchten so, den geheimen Körpercode des Meisters zu entschlüsseln, der ihn so unangreifbar und überlegen machte.
Später, als Ben Lo unter den Schülern schon als Eingeweihter galt, schlossen ihn einmal die jüngeren Mitschüler in einer Kammer ein und wollten ihn zwingen, die Geheimnisse preis zu geben, die er von Cheng Man Ching sicher schon anvertraut bekommen hatte. „Lies die klassischen Texte. Stehe in Stille und warte bis die Krankheit und Schwäche Dich verlässt und Stärke in Dir spürbar wird. Übe täglich.“ Mehr wusste Ben Lo auch nicht… selbst dann nicht, als er schon viele tausend Schüler unterrichtet hatte.
Irgendwann verließ Cheng Man Ching seine Heimat um nach Amerika zu gehen. Dort war er unter den Ersten, die das Taiji in den Westen brachten. Er wurde auch von seinen amerikanischen Schülern sehr verehrt. Ben Lo verachtete die westliche Freundlichkeit, mit der Cheng Man Ching in den USA unterrichtete. Cheng Man Ching schien die Gabe gehabt zu haben, auf sehr unterschiedliche Arten zu unterrichten: die chinesischen Schüler traditionell chinesisch und die westlichen Schüler so wie Westler es nehmen können. Außerdem scheint er seine Schüler auch sehr individuell und jeden nach seiner Art unterrichtet zu haben. Ich selbst habe ein paar direkte Schüler von Cheng Man Ching treffen dürfen und in allen schwang noch ein Strahlen nach, das von dem großen Meister auf sie übergegangen war.
Ben Lo führte nach der Abreise des Professors dessen Schule in Taiwan weiter. Er war inzwischen eine anerkannte Kampfkunst-Größe, er war selbst ein respektierter und strenger Lehrer geworden. Nach ein paar Jahren kehrte Cheng Man Ching auf einen Besuch an seine alte Schule zurück. Ben Lo holte seinen Meister vom Flughafen ab und noch in der Gangway wolle Cheng Man Ching sehen, ob sein Schüler in der Zwischenzeit fleißig gelernt hatte. Er forderte Ben Lo auf mit ihm zu pushen und kaum, dass sie sich berührt hatten, flog Ben Lo in hohem Bogen gegen die Wand und rutschte äußerlich geprellt und innerlich geknickt wieder zurück auf den Boden. Er bat seinen Meister, ihn aus der Schule zu entlassen. Er wollte mit dem Taiji aufhören, weil er offenbar in all den harten Lehrjahren überhaupt nichts gelernt hatte. Das erstaunte den Meister: „Nein“, sagte er, „Du hast große Fortschritte gemacht. Als ich ging, brauchte ich nur 15% meiner Energie um Dich zu pushen und jetzt sind es schon 30%.“
Wieder eine Weile später überraschte Cheng Man Ching seinen Schüler mit der Aufforderung nach Amerika zu gehen und an der Westküste eine Schule aufzumachen. In dem Postamt, auf dem Ben Lo seinen Brotjob machte, hatte er niemandem von seinem Taiji erzählt. Jetzt holte er das nach, kündigte und folgte dem Wunsch seines Meisters. Er eröffnete eine Taiji Schule in San Francisco. Später reiste er aber auch in alle Welt, um Workshops zu geben.
Ben Lo kam auch regelmäßig nach Holland. Dort hatte ein Koch, der eine Zeit lang bei Cheng Man Ching gelernt hatte, nebenbei holländischen Kampfenthusiasten die Taiji Form beigebracht. Als er wieder nach Taiwan zurück kehrte, ließ er eine Gruppe von Schülern zurück, die sich zur „Stichting Taijiquan Nederlands“ formierten. Sie laden seit dem alle Cheng Man Ching Schüler nach Holland ein, die sie für Workshops gewinnen können. Auf diese Weise kam Ben Lo immer einmal im Jahr für eine Woche in ein Kloster in der Nähe von Amsterdam.
Der Unterricht bestand im Wesentlichen darin, uns in den verschiedenen Bildern der Taiji Form stehen zu lassen. Mir ging das sehr gegen mein Wesen und gegen meine Gewohnheit. Ich wollte ausweichen, entspannen, der Schwierigkeit aus dem Weg gehen. Nichts von dem wurde von Ben Lo geduldet. Ich fand dieses Stehen idiotisch, es war stupide und unglaublich anstrengend. Die Schultern brannten, die Beine zitterten, der Körper schwitzte und mein Geist rebellierte. All das nur, weil dieser menschenfeindliche Meister es uns befahl. Ich hatte wohl gesehen, dass Ben Lo etwas hatte, was mir fehlte. Er wusste wie die Bilder der Form wirklich aussahen, wo Schulter, Arm und Hand ihren Platz hatten. Bei ihm war das unglaublich klar zu sehen und es schien einfach zu sein. Also stand ich, weit über das Limit hinaus, das ich für möglich gehalten hätte. Am dritten Tag wurde es plötzlich dunkel um mich, ich spürte mich an den Boden sinken und das Bewusstsein schwinden. So etwas war mir noch nie zuvor passiert. Man brachte mich auf mein Zimmer. Als ich wieder erwachte, brauchte ich lange, bis ich begriff, dass ich nicht nur den Nachmittag, den Abend und die ganze Nacht verschlafen hatte, sondern auch noch den Vormittag dazu. Mir fehlte ein ganzer Tag.
An einem der Abende zeigte Ben Lo ein paar Filme. Wir sahen Cheng Man Ching. Die Filme waren amateurhaft und in schwarz weiß gedreht, aber da sahen wir den Meister unseres Meisters. Er schien die Schüler kaum zu berühren und schon flogen sie durch den Raum. Ben Lo kommentierte diese Filme nicht.
Später einmal brachte Christel eben diese Filme aus Amerika mit. Sie sagte uns, dass sie uns nicht verraten dürfe, von wem sie die Kassette bekommen hätte. Für mich wurde dieses VHS ein Heiligtum. Für diese Kopie einer Kopie einer Kopie kaufte ich mir einen Videorekorder mit Einzelbild-Schaltung und wurde so direkter Geheimschüler des großen Cheng Man Ching. Später einmal rutschte mir Ben Lo gegenüber heraus, dass ich eine Kopie dieser Filme besäße. Ben Lo blitzte vor Wut und wusste auch gleich aus welcher Quelle diese Filme gekommen sein müssten. Eigentlich, so erklärte er mir, könnte man diesen Film nur direkt von der Witwe Cheng Man Chings erwerben. Der Film würde 1000,- US Dollar kosten und man müsse ein Gelübde ablegen, den Film nicht zu kopieren.
Nachdem wir also auf Ben Los Workshop die Cheng Man Ching Filme gesehen hatten, zeigte er auch noch einen Film von einem großen, groben Chinesen, der in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viele weiß gekleidete Schüler in der Gegend herum schubste. Ich fand den Film unangenehm und hatte keine Ahnung, wozu wir uns das angucken sollten.
Später erfuhr ich, dass die besagte Witwe des Professors Sorge gehabt habe um das geistige Erbe ihres Mannes. Überall in der Welt entstanden Cheng Man Ching Schulen, aber ohne Zusammenhalt oder Kontrolle über die Treue der Inhalte. Also entschied sie, sehr chinesisch, alle direkten Schüler ihres Mannes sollten sich bei ihr einfinden und im Push hand gegen einander antreten. Der beste unter ihnen sollte dann von den anderen als Stammhalter anerkannt werden. Das Treffen fand statt und tatsächlich soll Ben Lo der Stärkste unter ihnen gewesen sein… mit einer Ausnahme: Master Huang aus Malaysia konnte, selbst wenn er nur auf einem Bein stand, Ben Lo pushen und ihn besiegen. Das muss ein harter Schlag für Ben Lo gewesen sein, dessen Welt sehr davon gelebt hatte, der Beste zu sein. Damals in Taiwan in des Professors Schule war Ben sogar Huangs Lehrer gewesen und hatte ihn in die Anfänge des Taiji eingewiesen. Immerhin, als ein Zeichen seiner Treue der Witwe gegenüber und als Anerkennung seiner Niederlage, zeigte Ben Lo seit dem immer diesen Film von Master Huang, wie der seine weiß gekleideten Schüler pusht, auch wenn wir alle nie begriffen, wozu wir das anschauen sollten.
Am Abend nach dem Unterricht entstand ein Gespräch zwischen Ben und mir. Ben meinte, ich hätte doch jetzt schon mal einen kleinen Anfang gemacht. „Oh, einen Anfang? Wie lange meinst Du denn das ich schon übe?“ Ich war stolz auf meine knappen 10 Jahre fleißigen Übens. „Vielleicht ein, höchstens 2 Jahre“ antwortete Ben. Eine Stimme sagte mir: Er will Dich nur ärgern, und eine andere Stimme wusste: „Er hat Recht, du fängst jetzt erst an.“
Ben Los Fähigkeit zu pushen war geradezu übernatürlich. Eigentlich unterrichtete er gar kein Push hand, sondern er pushte mit jedem, der das wollte, während alle anderen herumstanden, um zu sehen, zu staunen, zu lachen und nicht zu begreifen. So eine Push hand Begegnung hatte zwei Phasen. Die erste Phase dauerte nur wenige Sekunden, ich möchte sie mal die „Diagnose“ nennen. In dieser Zeit sah die Begegnung der beiden ähnlich aus, wie das auch sonst beim Push hand aussieht. Die Kontrahenten berühren sich leicht, bewegen sich katzengleich wie in einem gemeinsamen Tanz, jeder spürt nach der Erdung und den Widerständen des anderen. Dann folgte Phase zwei, die ich „das Mantra“ nennen möchte. Plötzlich pushte Ben Lo sein Gegenüber, jeden auf eine ganz individuelle Weise und wiederholte diesen Push dann ein Mal und wieder und immer wieder.
Als ich das erste Mal Ben Lo gegenüber stand, begann das Pushen sehr faszinierend. Sein Körper hatte eine unglaubliche Leichtigkeit und trotzdem eine Art eigener Gravitation von unveränderbarer Bestimmtheit. Geradezu hypnotisch war der Blick in seine Augen. Das eine Auge war blau, das andere braun. Etwas, das ich nie sonst gesehen habe: Seine Iris hatte einen Innen- und einen Außenring. Der blaue Außenring hatte einen braunen und der braune einen blauen Innenring. Noch bevor ich die Zeit hatte, das wirklich zu begreifen, flog ich auch schon. Ich landete mit dem Po auf dem Boden, beide Beine ausgestreckt, die Arme aber immer noch erhoben zum Kampf. Was für eine seltsame Position! Die Umstehenden feixten schon. Ich stand wieder auf und kehrte zu Ben Lo zurück. Ich hatte ihn noch kaum berührt, als ich schon wieder flog und… durch etwas, das ich mir nicht erklären konnte, in derselben, unmöglichen, komischen Position landete, aus der ich eben erst aufgestanden war. Wollte mir Ben Lo damit etwas sagen? Dass meine Beine zu steif seien? Ich versuchte beim nächsten Mal, die Beine so elastisch und durchlässig wie möglich zu machen. Wieder landete ich in genau derselben Position wie die Male zuvor. Ich änderte alles, was mir einfiel: mal hart, mal weich, mal kämpferisch, mal ergeben. Ich fühlte mich wie verzaubert. Wie konnte Ben Lo so eine Macht über meinen Körper haben, dass ich noch nicht einmal mehr Einfluss auf die Art meines Fallens hatte. Die anderen lachten. Aber es erging keinem besser als mir. Mir fiel es schwer, seine Partner, die teils bekannte Kampfkunst-Lehrer waren, so dauerhaft hilflos immer wieder auf dieselbe Weise fliegen zu sehen. Wenn Ben Lo eines wirklich konnte, dann: Egos knicken!
Als besonders eindrucksvoll habe ich seine erste Begegnung mit einer mehrfachen Judo Europa-Meisterin in Erinnerung. Ich kannte sie gut. Ben Lo aber wusste nichts über diese neue Schülerin und begegnete ihr wie jedem anderen Push hand Partner auch. Er merkte sofort, dass er es hier mit einer Ausnahme-Athletin zu tun hatte. Miriam hatte beim Jodo gelernt, unglaublich schnell und konsequent auf Bewegungen zu reagieren. Also täuschte Ben Lo schon nach wenigen Sekunden seine Bewegungen nur noch an. Auf diese Weise wehrte sich Miriam gegen Angriffe, die gar nicht stattfanden. Sobald sie das begriffen hatte, ging sie auf seine Finten nicht mehr ein. Jetzt allerdings wurden aus dem, was Miriam für Finten hielt, wirkliche Angriffe und aus dem, was sie für Angriffe hielt, Finten. Schließlich stand Ben Lo nur noch da und berührte sie gar nicht mehr. Aus kurzer Entfernung deutete er die Bewegungen eines Schlangen-Beschwörers vor ihr an und Miriam torkelte wie eine Betrunkene und tapste ins Leere. Beide lachten. Es war faszinierend und beängstigend.
Ich habe ein ganzes Jahr lang an meinem „Mantra“ geübt. Ich habe gelernt in Stille zu stehen, was mir extrem gegen mein Wesen und meine Gewohnheit ging. Unter Druck wollte ich ausweichen, mich entziehen, entspannen. Im stillen Stehen aber hieß es, all das Unerträgliche einfach nur zu spüren, äußerlich unverändert zu bleiben und nach innen loszulassen. Wenn man eine Weile in einer stillen Position steht, entsteht eine Anstrengung. Die Muskeln, die den Körper zu tragen haben, erhöhen ihren Tonus und unbemerkt vom Übenden, aktiviert er die Gegenspieler des arbeitenden Muskels mit. So beginnt man also gegen sich selbst zu kämpfen. Eine Spirale aus immer größer werdender Anstrengung und Gegen-Anstrengung. Das Ergebnis ist dann entweder der totale Zusammenbruch oder der Beginn inneren Friedens. Die innere Blockade löst sich, die gegeneinander arbeitenden Muskeln geben sich frei und plötzlich wird das, was eben noch absolut unerträglich war, mühelos und leicht.
Ich begann diese Übung in der aller bescheidensten aber zugleich auch in der ehrlichsten Variante. Ich stellte mich allein in meinen Übungsraum, nahm eine einfache Position ein und erlaubte mir kein inneres Entweichen. Nach 3 Minuten schon war ich total erschöpft, ging in die Badewanne und danach ins Bett. Als ich mit dem Stehen vertrauter war, habe ich früh morgens im Park geübt. Amseln um mich und Herbstlaub, die Augen geschlossen, die Welt versank, bis ich schließlich innerlich immer noch strömend und glücklich nach Hause ging. Jahre später hatte ich einen Schüler, dessen Freundin Fotografin war. Sie hatte in dieser Zeit das Erwachen des Tages fotografiert und von Ferne, ohne dass mir das aufgefallen war, das schöne stille Stehen im Morgennebel fotografiert. Ein anderes Mal, im Winter, ging ich in so vollständiger Dunkelheit an den Weiher zum Stehen, dass ich meinen damaligen Klosterschüler nicht sehen konnte, der dort schon stand, ich konnte ihn aber atmen hören. Als es während des Stehens heller wurde, entdeckte ich, dass noch zwei andere Schüler mit uns gestanden hatten, von deren späterem Kommen ich gar nichts bemerkt hatte.
Die schwierigste Aufgabe beim Stehen ist: den Frieden zu wahren und nicht in Kampf, Ehrgeiz und Selbst-Unterdrückung zu geraten. Wir machten auf einer mittelalterlichen Wehrfinka auf Mallorca Ferien. Hier hatten sich früher die Bauern gegen Seeräuber geschützt. Innerhalb dieser riesigen, äußeren Mauern löste ich innere Mauern auf. Mittags habe ich immer eins unserer Kinder auf den Armen in den Schlaf gewiegt. Den Mittagsschlaf über stand ich dann in einer größer werdenden Pfütze aus Schweiß, die Fenster offen, die Grillen zirpten draußen. Der Frieden des schlafenden Kindes half mir, den Kampf in den eigenen Muskeln zur Ruhe zu bringen. Lächelnd, hellwach, wie im Traum.
Ich weiß nicht, warum ich mich auf diesen strengen und harten Lehrer einließ. „The sergeant of Tai Chi“ nannten sie ihn in Amerika. Mit allen männlichen Autoritäten aus meiner Welt war ich im Widerstand und jetzt lernte ich bei diesem Chinesen, der weit gnadenloser und herablassender war, als alle Männer, von denen ich fortgelaufen war. Ben Lo gab meinem Taiji neuen Halt. Ich war im Widerstand mit ihm als Person, mit seiner Lehre in meinem Körper und trotzdem war ich voller Inbrunst beim Lernen.
Es war auch die Zeit, in der ich in Hamburg alle Taiji-Lehrer-Kollegen, die ich zu fassen bekam, besuchte um mich mit ihnen auszutauschen. Ich griff damit eine Vision von Christel auf, die zwar die Kraft hatte sie zu denken, aber nicht die Lust sie umzusetzen. Auf der Brüstung meines Balkons sitzend, tippte ich die Vision eines Zusammenschlusses austauschfreudiger Taiji Freunde in meinen Toshiba T 1000, ein Manifest für Spieler, die bereit sind über den Tellerrand des Bekannten hinaus zu schauen, gemeinsam zu lernen und zu forschen. Heute ist daraus das „Taiji und Qi Gong Netzwerk“ geworden.
Ich wagte es Ben Lo nach Hamburg einzuladen und es kamen knapp 40 Übende, vor allem aus Hamburg, aber auch aus anderen deutschen Städten, aus der Schweiz und Österreich. Es war ein großes organisatorisches, finanzielles und menschliches Wagnis. Von mir war es als Erweiterung und Bereicherung gedacht. Christel aber fasste diese Einladung als eine Infragestellung ihrer Taiji-Welt auf. Viele Übende lernten mit Ben Lo zum ersten Mal einen anderen Lehrer kennen und es gab nach seinem Workshop einiges an Widersprüchen, vieles an Bewegungen und auch Enttäuschungen und Verletzungen.
Den Workshop begann Ben Lo damit, dass er ein Bein ganz durchstreckte, sich dann auf seltsame Weise beugte und sich mit beiden Händen unter die Fußsohle fasste. Er tat das langsam und demonstrativ. Dann fragte er, ob Einer von uns das nachmachen könne. Wir probierten das und es gab Niemanden, der diese Verrenkung so hin bekam wie Ben Lo. Darauf fragte Ben Lo, wer der Älteste von uns sei. Paul Fink war es und sollte sein Alter nennen. In die anschließende, erstaunte Stille hinein sagte Ben Lo dann: „Ach so, ich bin also hier der Älteste von allen“ – denn er war noch älter als Paul – „und der Beweglichste, interessant.“ Dann bat er uns, unsere Taijiform zu laufen. Etwas nervös liefen wir zusammen unsere Form. Wir liefen die Form voller Hingabe und so gut wir es konnten. Für viele von uns war dieTaijiform ein Herzstück unseres Lebens geworden. Ben Lo schaute sich die ganze Form an. Erst schwieg er und fragte dann: „Was ist das für eine Form, die ihr da lauft?“ Ganz naiv antworteten wir: „Das ist die Taiji Kurzform nach Cheng Man Ching. Christel hat sie uns beigebracht.“ „Nein“, antwortete Ben Lo, ohne eine Miene zu verziehen. „Das ist nicht die Taijiform des Professors.“ Einige waren verwirrt, andere gekränkt, manche begriffen nicht, was das Ganze sollte.
Nach diesem denkwürdigen Vorspiel begann Ben Lo endlich den Unterricht. Hauptsächlich lernten wir, in den Positionen zu stehen. Er ging dann herum und gab den einzelnen Schülern kurze Korrekturen. Dann gab es seine Erklärungen, bei denen wir im Halbkreis herumstanden und versuchten zu verstehen, was er sagte, und schließlich gab es noch das gemeinsame Laufen der Form und vor den Pausen für die, die Spaß daran hatten, das besagte Push hand.
Ben Lo hatte aber auch eine einfache einprägsame Lehre entwickelt: Die 5 grundlegenden Taiji Prinzipien. Keiner von uns hatte zuvor von Taiji Prinzipien gehört. Uns schien das die Essenz dieser geheimnisvollen Körperkunst zu sein. Über allen Fünfen stände: die Natur! Alles im Taiji solle der Natur entsprechen.
Das erste und oberste aller Taiji Prinzipien war: Entspannung.
Ben Lo erklärte uns, wir sollen alle Muskeln des Körpers entspannen, erst dann sei unser Taiji vollkommen. Ein Arzt unter uns fragte mit kritischem Unterton, ob Ben Lo wirklich alle Muskeln meine. „Ja alle“ antwortete Ben Lo, gab allerdings zu, auch selbst noch daran zu üben. Sein Vergleich: Gutes Taiji sei wie vollständig betrunken zu sein. Allerdings mit dem Unterschied: Man könne beim Taiji immer noch aufrecht stehen. Tatsächlich hatte Ben Los Körper eine Konsistenz, als hätten sich seine Knochen in etwas Flüssiges verwandelt. Zwischendrin allerdings verwandelte sich sein fließender Körper in eine Art steinernen Findling, unmöglich ihn in irgendeine Richtung zu bewegen. Mit mir war er nicht zufrieden. Ich solle meinen Handrücken entspannen. Als ich ihn ratlos anschaute, zeigte er mir seinen Handrücken, der glatt und rund war, wie der eines Babys. Mein Handrücken dagegen zeigte Sehnen und Adern. Die sollte ich jetzt entspannen, bis meine Hände aussähen wie seine.
Das zweite Prinzip war: Teile Yin und Yang.
Für ihn bedeutete das, ganz auf einem Bein zu stehen und das andere, selbst wenn es den Boden noch berührte, vollständig entlastet zu haben und es nicht mehr für die Balance zu benutzen. Das war einfach zu verstehen aber nahezu unmöglich umzusetzen, schon allein deswegen, weil dadurch das Stehen nicht doppelt, sondern gefühlt unendlich mal anstrengender wurde. Er prüfte das im Unterricht, indem er uns aufforderte, im stillen Stehen den unbelasteten Fuß ganz leicht vom Boden abzuheben. Standen wir links, sagte er in militärischem Befehlston: „Check right foot.“ Seine langjährigen Schüler hatten aus Ben Los Chinglisch herausgehört: „Check riffle“ und das dann zum Running Gag gemacht:
Das dritte Prinzip war: Drehe die Mitte.
Damit war gemeint, den Körper nicht in sich selbst zu verdrehen. Bauchnabel, Herz und Kopf bleiben in der Taijiform immer als Einheit beieinander und ergeben so ein starkes, klares Ganzes. Es geht wohl auch darum, Geist und Körper verbunden zu haben. Es ist so schwer, nicht mit dem Kopf dem Geschehen immer ein Stück voraus zu sein und damit leider nie dort zu sein, wo Du bist.
Das vierte Prinzip war: Halt den Körper aufrecht.
Das klingt einfach. Schon meine Mutter hatte mir gesagt: „Halt Dich gerade!“ Da ich aber nicht meine Mutter bin und mich von außen nicht sehen kann, hatte ich geglaubt, gerade zu sein… war es aber offenbar nicht. Das erste Mal wusste ich nicht wie mir geschah. Ben Lo hatte sich sehr dicht hinter mich gestellt, führte seine Hand in den verbleibenden Spalt, zwischen seiner Brust und meinem Rücken und ließ dann seine Hand blitzschnell von seinem zu meinem Körper hin und her trommeln. „Aha, der Meister trommelt, das hat bestimmt etwas zu bedeuten, aber was?“ Schließlich ging Ben Lo weiter. Bei Anderen sah ich dann, was gemeint war. Ben Lo stand aufrecht, der Schüler aber war, ohne es selbst gemerkt zu haben, vornübergebeugt. Ben Los Trommeln lies die Größe des Spalts hören und spüren. Richtete sich der Schüler auf, verstummte das Trommeln, weil die Hand zwischen den beiden aufrechten Körpern keinen freien Raum mehr hatte. Ohne also etwas gesagt zu haben, richtete das Trommeln den Schüler auf und erinnerte alle anderen daran, aus ihrer entspannten aber kollabierten Rundrücken-Haltung empor zu kommen. Ich hatte eine bestimmte Vorstellung davon, lieb zu sein. Mich leicht vor zu beugen und noch dazuhin den Kopf nach vorne zu schieben und leicht schräg zu halten, hatte mir das Gefühl gegeben, ganz und gar liebenswert zu sein. Bei Anderen sah ich erschrocken, was diese Haltung aus Menschen machte. Die kommentarlose Klopf-Methode von Ben Lo schickte mich auf einen jahrelangen, mühsamen Weg der Aufrichtung.
Das fünfte und letzte Prinzip war: „Keep beautifull ladys hand.“
Cheng Man Ching, der „Professor“, hatte viele Dinge so eigen und anders gemacht als in der damaligen Tai-Chi-Welt üblich, dass er viele Bewunderer und mindestens so viele Kritiker auf den Plan gerufen hatte. Eine deutlich sichtbare Gestalt von Cheng Man Chings Eigenheit war die von ihm eingeführte „Hand der schönen Frau“. Anstatt also die Hand wie üblich martialisch abzuwinkeln, hielt er immer eine fließende und doch gerade Linie vom Unterarm über die Hand bis zur Spitze seines Mittelfingers. Für Menschen mit Aggressionen, Ängsten und Widerständen bedeutete das, die Spannung aus ihren verneinenden Händen zu nehmen. Für die Lieben, Schlaffen, Kollabierten hieß es, die Hand zu straffen und aufzurichten. Das Ergebnis war wie so oft im Taiji, eine vollkommen unspektakuläre, im Wortsinne Baby-leichte Haltung der Hand. Es ist erstaunlich, was für eine Signalwirkung von der Handhaltung für den ganzen Körper ausgeht. Es ist fast unmöglich den Körper zu entspannen, wenn Du die Faust ballst, und es ist ebenso schwer wach und präsent zu sein, wenn die Hände schlaff herunterhängen.
Meine Hand hatte natürlich zu wenig Spannung. Zu lieb, zu kraftlos, zu entspannt. Die Aufgabe war wie immer scheinbar einfach. Halte die Hand gerade. Bei den „Wolkenhänden“ zeigt die Handinnenfläche der oberen Hand zum Herz, während der Ellenbogen weit außen steht, eine Haltung als würde man im Tanz eine Frau eng vor der eigenen Brust führen. Dabei war jetzt darauf zu achten, die Hand in einer Linie mit dem Unterarm zu halten.
Ben Lo korrigierte mich und kündigte mir zugleich an, dass ich genau denselben Fehler schon im nächsten Moment wieder machen würde. Mein Ehrgeiz war angestachelt. Diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Wir übten die Wolkenhände weiter, es waren viele Schüler im Raum. Der rechte Fuß sollte den Boden vollflächig, aber ohne Gewicht berühren, der Körper aufrecht, aber ohne innere Verdrehung. Ben Lo ging durch die Gruppe, korrigierte einzelne Schüler, während wir alle in Stille standen und versuchten innerlich und äußerlich in die richtige Haltung zu kommen. Ben Lo ging in gerader Linie von vorne nach hinten durch die Schüler. Diese ganze Durchforstung fand zwei Schüler links von mir statt. Ich stand für mich, über und über mit innerer Ausrichtung beschäftigt. Plötzlich sprang Ben Lo von der Seite vor mich, strahlte mich an: „Und hab ich Dir´s nicht gesagt: Da hängt Deine Hand wieder.“ Ich hatte aber das Gefühl, alles richtig zu machen. Meine Hand war sauber ausgerichtet, wie ich es mir vorgenommen hatte. Da fasste Ben Lo mein Handgelenk und hob mir die Hand langsam vors Gesicht. Da sah ich, was er meinte. Meine Hand hing tatsächlich wie eine welke Blume herab. Was sich gerade, sauber ausgerichtet und würdevoll angefühlt hatte, bestätigte stattdessen die Wahrsagung des Meisters. Er hatte meine Schwäche besser gekannt als ich. Ben Lo lobte nie etwas, aber seine Freude an den Niederlagen seiner Schüler kam von Herzen.
Sein Unterricht war extrem anstrengend. Er knickte die Egos aller Schüler und die ehrgeizigsten, fleißigsten von ihnen, nahm er am härtesten heran. In diesen schweren Stunden gab es aber eine wesentliche Erleichterung: Ben Lo redete gerne. Die Gruppe stand dann im Kreis um ihn herum. Einige drückten sich nach hinten und sanken erschöpft zu Boden. Ben Lo erzählte oft dasselbe. Einige Dinge variierte er, andere wiederholte er immer wieder nahezu wörtlich. Chinesisches Denken ist anders. Ben Lo versuchte sich wohl in einer Übersetzung seiner Welt in unser westliches Denken, konnte allerdings das Hindurchschimmern des chinesischen Ursprungs nicht gut verbergen. Statt der traditionellen Analogien „Stehe ruhig wie der Berg“ bildete er für uns Westler Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge „No pain, no gain“. Er gab uns sogar psychologische Erklärungen: „You must suffer.“
Besonders deutlich wurde das, wenn Schüler fragten. Er forderte uns zwar auf zu fragen, als Antworten kamen dann allerdings zumeist seine Standard Erklärungen, die er sowieso schon viele Male erzählt hatte. Manchmal antwortete er einfach: „Lest die klassischen Texte“ – Das sind schwer verstehbare, quasi alttestamentarische Taiji Texte, in denen man alles oder nichts finden konnte: Gesänge über Fülle und Leere, gedichtartige Weisheiten aus einer anderen Zeit.
Ein Beispiel:
„Dem Heranreifen folgt allmählich das Erwachen zum Verstehen der Energie. Dem Verstehen der Energie (tung chin) folgt die Stufe der geistigen Erleuchtung. Ohne beharrliches Üben gibt es kein Durchdringen zu dieser plötzlichen Erleuchtung.“
Einzelne Sätze aus diesen Texten blitzen allerdings auf und machen unmittelbar Sinn, wie etwa „Gehe wie eine Katze“. Oder „Außen ruhig wie der Berg, innen fließend wie das Wasser.“
Auf eine besonders pfiffige Frage von mir, warum wir denn im Taiji, anders als in anderen Kampfkünsten, in der Aktion ein- und nicht ausatmen würden, wurde er für eine Weile still. Man merkte, er rang um eine gute Antwort auf eine herausfordernde Frage. Schließlich leuchtete sein Gesicht auf und er antwortete: „Because we do it that way“.
Immerhin, die von uns gestellten Fragen verlängerten die Zeit seines Sprechens und das wiederum verkürzte unsere Zeit des anstrengenden Stehens. Grundsätzlich war schon Ben Los Versuch, auf unsere Fragen zu antworten, ein großes Entgegenkommen. In der traditionellen chinesischen Welt sind Fragen von Schülern an Lehrer eine Unverschämtheit. Selbst chinesische Kinder dürfen ihren Eltern keine Fragen stellen. Umso mehr ist es anmaßend, wenn ein Schüler den Lehrer fragt. Der Lehrer weiß selbst, wann ein Schüler reif für eine Antwort ist. Wir kennen das aus unserem Militär. Wenn der Kompanieführer der Truppe ein „rechts um“ zubrüllt, wäre die Frage „Warum?“ eine Unverschämtheit. Von Cheng Man Chings Übersetzer geht die Geschichte, dass der Meister von einem Kampfkunst-Experten interviewt worden sei. Der Westler habe eine lange, verschachtelte Frage gestellt, klug und herausfordernd. Der Übersetzer habe dann dem Meister alles auf Chinesisch vorgetragen. Was er dann allerdings zurück zu übersetzen gehabt habe, sei sehr kurz gewesen: „The master says: No“.
Ben Lo hatte ein paar denkwürdige Sprüche, mit denen er unseren Taiji Weg unterstützte. Der Satz, den ich heute am häufigsten zitiere, schreibe ich in dem chinglisch, in dem Ben Lo ihn immer wieder vortrug: „Don´t tink taiji is a easy“. Obwohl mein Umgang mit den Schülern so sehr anders ist als der von Ben Lo, kommt doch auch in meinem Unterricht immer wieder der Punkt für diesen Satz.
Das Gegenteil von dem, was ich im Taiji gesucht hatte, drückte Ben Lo so aus: „Go down“. Er drückte dann die zitternden Schüler, die sich vor Schmerzen schon halb aus den tiefen Ständen erhoben hatten, an beiden Schultern nach unten in die Hölle ihrer eigenen Muskeln. Was das „B L“ auf seiner Gürtelschnalle bedeute, fragte er uns. „Bend lo“. Tiefer und immer tiefer sollten wir gehen. Er hatte als Schüler gelitten und er freute sich, wenn er uns leiden sah. Es bereitete ihm eine sichtbare Lust, wenn die Schüler zu zittern begannen, wenn erst der Humor und schließlich die Selbstkontrolle aus den Gesichtern entwichen. Schmerz, Kampf, Grenzgang und Versagen, dorthin führte sein Weg. An diesem Ort allein gelassen, fanden wir das El Dorado, zu dem Ben Lo uns führen konnte. Dieser „Lo Ort“ war weit jenseits des Raumes, den ich für begehbar, aushaltbar und erlebbar gehalten hatte. Da wo die Luft zu dünn, die Welt zu heiß und zu lieblos war, da öffnete Ben Lo eine Welt, in der ich mehr entdecken sollte, als auf den grünen Wiesen des Wohlseins, zu denen ich aufgebrochen war.
Für mich selbst kämpfte ich in einer Trance aus Schmerz und innerem Feuer um Frieden. Je ferner dieser Friede wurde, umso weiter wurden die Wege, die ich zu ihm hin zu finden lernte. Danke, Ben Lo, für das Gegenteil von dem, was ich gesucht hatte.
Das anstrengendste aller Bilder der Taijiform ist der „tiefe Fauststoß“. Maximal tief gebeugt, an dieser einzigen Stelle auch mit tief gebeugter Wirbelsäule, quasi demütig und dennoch innerlich aufrecht, den Blick nach vorn und beide Füße vollflächig am Boden. Diese Stellung konnten viele gar nicht und manche nur für Sekunden einnehmen. Ich hatte zu diesem Workshop eingeladen. Alle Teilnehmer hatten an mich gezahlt, ich hatte alle begrüßt und Ben Lo vorgestellt. Ich konnte, darauf war ich mehr als stolz, ich meinte, ich könnte diese Stellung halten. Und tatsächlich, alle standen tief und leidend in diesem schwierigen Bild: Da kam Ben Lo, kam zu mir und fand offenbar nichts, was er kritisieren konnte oder wollte. Ich zerbrach fast vor innerem Kampf. Es ging darum, alles innerlich perfekt auszurichten und dem ständigen Schrei nach Erlösung, Entspannung, Entlastung Stand zu halten und in dem Bild zu verweilen. Ben Lo kam, legte seine Hand auf meinen Rücken. Er kritisierte nichts! Konnte das war sein? Ich hatte etwas in den Augen des Meisters richtig gemacht? Glücklich und total erschöpft wollte ich mich endlich erheben, aber nein…
Ben Lo rief die Schüler zu sich. Alle versammelten sich um mich in meinem Kampf und Ben Lo begann in seiner langatmigen Weise darüber zu dozieren, wie Entspannung die Grundlage für alles Weitere sei. Dabei stützte er sich tatsächlich auf meinem Körper ab, als sei ich eine Statue, die als Beweis seiner Thesen in Marmor gehauen vor dem Publikum stünde. Er fragte, ob noch Fragen zu fragen seien. Ich stand und etwas in mir legte den Schalter um und befreite mich von individuellen Entscheidungen. Jetzt war nur noch die Frage, ob das Bewusstsein mich wieder verlassen würde, wie am dritten Tag nachdem ich Ben Lo kennen gelernt hatte. Ich stand und die Welt um mich her verschwand und vereinfachte sich zu einem Ringen zwischen meinem Meister Ben Lo und der Kraft in mir, die sich nicht beugen lassen, nicht erniedrigen lassen wollte. Ich nahm wie von Ferne wahr, dass gesprochen wurde. Es wurde gelacht. Schließlich nahm die Konzentration der Gruppe ab. Es gab keine Fragen mehr. Ben Lo stützte sich nicht mehr auf mich. Man beachtete mich nicht weiter. Die Gruppe kehrte zurück zum Unterricht. Ich richtete mich langsam wieder auf, äußerlich unbeachtet und innerlich ungläubig, aber als Sieger über den Kampf mit dem Ego-Brecher und großen Lehrer Ben Lo.
Ben Lo war stolz darauf, dass er einmal 200 Schüler in einem Workshop gehabt hätte. Eine Woche später waren nur zwei Schüler übrig geblieben. Die anderen habe er weggeschickt. Sie seien von selbst gegangen, seinen krank geworden, wären zusammengebrochen. Für die verbliebenen zwei aber hätte sich all das gelohnt.
Einmal hatte Ben Lo begeistert von einem Film erzählt, den er im Fernsehen geschaut habe: Der große Flamenco Gitarrist Paco de Lucia hätte Schüler angeschaut, die sich darum beworben hätten, bei ihm zu lernen. Alle diese Bewerber waren bereits bekannte Gitarrenspieler, Professoren oder Pop Stars. Paco hätte sie alle gleichermaßen auf einem Stuhl Platz nehmen lassen, um sich dann etwas vorspielen zu lassen. Immer wieder habe er aber die Anwärter, als sie die Gitarre nur ansetzten, bereits wieder fort geschickt. Keinen einzigen Ton hätten diese Menschen spielen dürfen, bevor sie der Meister abwies. Das hatte Ben Lo gefallen.
Für mich stellte sich der Kampf so dar: Ich rang für die Liebe und gegen Ben Lo. Auf eine Weise hatte ich Christels Welt verraten, indem ich Ben Lo in ihre Welt, hier nach Hamburg, geholt hatte. In Ben Los Welt aber versuchte ich Christels Welt zu verteidigen. All das innerhalb meines Körpers. Christels Schüler aber, die aufgebrochen waren, um sich aus den Fesseln des Patriarchats zu befreien, die loslassen wollten, entspannen, vertrauen, die sah ich jetzt den Worten des von mir gerufenen Meisters folgen. Ich schaute während des Unterrichts bange nach denen, die Liebe mit Ehrgeiz verwechselten, die der Autorität des Meisters folgten und mit seiner Strenge gegen ihre schwachen Gelenke angingen. Ben Lo forderte das Unmögliche möglich zu machen. Es gab Schüler, Mitschüler von mir, die bis ins Unmögliche gelangten und dort gefangen blieben. Entwertet, überlastet und dann nicht weiter beachtet. In den Pausen nahm ich die Schüler heimlich beiseite und bat sie um das Gegenteil von dem, was der Meister lehrte, allerdings auch um das Gegenteil von dem, was ich selbst bei ihm lernte. Noch Monate später erzählten mir Teilnehmer davon, wie ihre Knie durch diesen Workshop überreizt worden seien und dauerhaft schmerzten.
Ben Lo hat das eigentlich mitbekommen müssen. Aber er interessierte sich weder für die, die zu schwach waren, noch für die, die sich mit den Schwachen abgaben. Ich fragte ihn, ob er auch Einzelstunden gäbe. „Ja“, antwortete er, aber es gäbe eigentlich kaum Schüler, die eine Einzelstunde bei ihm aushielten. Da er während des Workshops bei uns zu Hause wohnte, bat ich ihn doch einmal darum, mir etwas zu zeigen: „Was ist damit gemeint, die Arme durch Entspannung innerlich zu kräftigen?“ Beim „Qi Wecken“ halten wir die Arme rechtwinklig nach vorne ausgestreckt. Die Arme sind dabei nur ganz leicht gebeugt und irgendwie sollte sich in dieser Position innere Kraft entwickeln. Ben Lo stellte sich neben dem Esstisch auf, nahm die Position des Qi Weckens ein, streckte die Arme und forderte mich auf, an einem seiner Arme einen Klimmzug zu machen. Ich hatte Mühe einen sauberen Klimmzug hin zu bekommen. Ben Lo aber hielt seinen Arm ruhig und gelassen, als hätten meine Anstrengungen nichts mit ihm zu tun.
Später einmal, bei einem Workshop in Holland, erzählte Ben Lo, dass der „Vogelkopf“, eine Handhaltung, bei der alle 5 Fingerspitzen wie bei einer geschlossenen Blüte aneinander liegen, eine gefährliche Waffe sei. Wir hatten damals einen Kampfkunst erfahrenen Karateka aus Israel in der Gruppe. Er war schweigsam, muskulös und hatte eine martialische Ausstrahlung. Dieser Mann fragte herausfordernd nach der Wirkung des Vogelkopfes. Ben Lo winkte ab. Wir standen alle umher und der Mann provozierte Ben Lo, hielt ihm seinen kräftigen Kämpferarm ausgestreckt hin und forderte Ben Lo auf, ihm einen Schlag zu verpassen. Schließlich ließ sich Ben Lo überreden, bildete den Vogelkopf und schlug mit einer lässigen und unauffälligen Bewegung mit seinem lockeren, Sandsack-artigen Fingerknäul gegen den sehnigen Kämpferarm. Irgendwie waren wir enttäuscht. Der Kämpfer sagte nichts und zog den Ärmel seines Hemdes über die getroffene Stelle am Unterarm. Die Schüler verstreuten sich. Am nächsten Tag zeigte mir der Geschlagene seinen Arm. Ich fand eine kräftige Schwellung und einen blauer Fleck, der sich ganz um den stämmigen Arm herum gebildet hatte.
Als die Woche um war, ließ Ben Lo uns feierlich im Kreis stehen. Alle, die bereits den zweiten Workshop bei ihm mitgemacht hatten, sollten den Arm heben, dann den Arm nach vorne stecken, die Hand öffnen und so halten. Dann ging er herum, tat in jede dieser Hände etwas Kleines hinein und drückte uns die Hand gleich wieder zu. Wir durften die Hand noch nicht öffnen. Dann stand er, standen wir, still und stolz und strahlend. Er erlaubte uns, jetzt in unsere Hände zu schauen. Es war eine winzige, metallische Anstecknadel. Mit guten Augen konnte man darauf erkennen: UTCCA. In Deutschland gab es eine fragwürdige Taij Organisation, sie hatten in allen deutschen Großstädten Vertreter ihrer Schule, die aber keinen Kontakt zu anderen Taiji Übenden haben durften. Deren Verband nannte sich ITCCA: International Tai Chi Chuan Association. Wir dagegen gehörten jetzt zur Universal Tai Chi Chuan Association. Die Nadel war lächerlich und doch auch seltsam bedeutend.
Was Ben Lo in mir sah, kann ich nicht sagen. Immer wenn er im Unterricht zu mir kam, fand er etwas zu kritisieren. An ein Lob kann ich mich nicht erinnern. Aber einmal, ich war ihm nach Schweden nachgereist, wo er in einem Zen Kloster unterrichtete, bot er sich nach dem Unterricht wieder zum Pushen an. Für mich war eigentlich nur die Frage, ob er mir dasselbe Push Mantra geben würde wie im letzten Jahr oder ein Neues. Wir begannen zu pushen und nach 3 und 5 und 10 Sekunden, geschah… kein Push, kein Mantra, sondern wir pushten wirklich. Was für ein Glück! Wir pushten tatsächlich. Das Spiel war voller Überraschungen und schöner, für mich unbekannter Wendungen. Einmal erwischte er mich mit großer Macht und schleuderte mich mit der Energie meines Angriffs an sich vorüber und ich hätte wohl hinter ihm auf dem Boden landen sollen. Stattdessen und in der Freude am Spiel, schaffte ich es, in einem engen Bogen hinter ihm herum zu kreiseln und fast in dem Moment des Wurfes noch von der anderen Seite wieder vor ihm aufzutauchen. Das kam für uns beide so überraschend und irgendwie schön, dass wir beide lachen mussten. Das war sicherlich keine überragende Kampfkunst, aber eine so eigenwillige und originelle Anwendung der Taijji Prinzipien, dass Ben Lo sie einfach gelten ließ.
Vor seiner Abreise nahm mich Ben Lo zur Seite. In einem beiläufigen Ton bot er mir etwas an, das wahrscheinlich mein Leben in eine andere Bahn geleitet hätte. Er bot mir an, der Vertreter seiner UTCCA in Deutschland zu werden. Ich habe später Westler getroffen, die so eine Verbindung zu einem chinesischen Lehrer eingegangen waren, die darauf ihren Meister auf Reisen durch China begleitet hatten, eingeführt worden waren in die inneren Zirkel der direkten Cheng Man Ching Schüler. Ich aber lehnte ab. Ich wollte frei bleiben. Ich war sehr dankbar für das, was ich bei Ben Lo lernen durfte. Sicher hätte ich noch viel mehr lernen können. Aber ich hätte dann den eigenen Weg nicht mehr gehen können, den ich in den folgenden Jahrzehnten sehr angeregt durch Ben Lo gegangen bin.
Eigentlich aber, war Ben Lo auf der Suche nach Schülern, die er ganz nach vorne bringen konnte. Im Push hand gibt es Wettbewerbe und er war sehr stolz darauf, dass die Sieger in den USA in der Regel aus seiner Schule kamen. Ich selbst bin kein Gewinner-Typ, aber ich hatte eine Schülerin, die ganz außergewöhnlich war in ihren Fähigkeiten und ihrem Charakter. Karina war eine polnische Tänzerin, die mit ihrem damaligen Freund nach Paris trampen wollte, wo sie auch ohne Geld, einfach nur durch Leidenschaft und Offenheit hoffte, ihren Weg in die große Tanzwelt zu finden.
Von Hamburg nach Bremen aber machte sie einen folgenschweren Schritt: Sie stieg bei meiner Lehrerin Christel ins Auto ein. Es braucht etwas länger als eine Stunde, um mit dem Auto über die A1 nach Bremen zu fahren, und diese Zeit reichte aus, um Karina für den Tanz des Taiji zu interessieren. Einen alten Kampftanz, der codiert taoistische Weisheiten in den Körper prägt, der Friedfertigkeit und Kampf verband, und der den Suchenden dorthin führte, wohin so viele wollten: zu Christel.
Karina lebte bei Christel, half ihr im Haushalt, reiste mit ihr, wurde ihr Schatten, ähnlich wie ich das über lange Zeit gewesen war. Christel führte Karina und mich zusammen. Sie war zierlich, ihr Händedruck war erschreckend substanzlos, ihr Körper schien beliebig formbar, wissbegierig, begabt und vollkommen unbeschrieben von Kampfkunst. Christel bat mich, Karina in die Kunst des friedlichen Kampfes einzuführen. Es war, als hätte sich durch glückliche Fügung eine neue vulkanische Insel aus dem Meer erhoben. Der Boden unendlich fruchtbar und noch ganz ohne Bewuchs, Kultur und vor allem ohne Fehlzüchtungen und überdüngte Böden.
Sie saugte das Kämpfen in einen Körper, der eher zum Schweben, am ehesten noch zum Entschweben geeignet schien. Die Entdeckung der Erde und der Verwurzelung waren ihr so neu, wie einem Maulwurf der Himmel. Sie lernte begabt und begeistert und als Ben Lo sie zum ersten Mal sah, klickte ein Schicksals-Schloss zu. Ben Lo wollte und suchte die Besten und Karina wollte zur Besten gemacht werden. Im Handstreich raubte mir Ben Lo meine begabteste Schülerin und sie ging fast ohne Adieu zu sagen.
Zwei Jahre später sah ich sie wieder. Sie besuchte mich in meiner Wohnung, wir saßen hinten in der Loggia bei grünem Jasmintee. Sie erzählte begeistert und war tatsächlich in Rekordzeit zum Champion in ihrer Gewichtsklasse geworden. Wir rückten die Stühle zur Seite und kämpften auf den Steinfliesen. Zu ihrer Beweglichkeit und feenhaften Durchlässigkeit hatten sich eine zähe Elastizität und eine geradezu unglaubliche Standfestigkeit gefunden. Die einzige Möglichkeit, die ich noch fand, sie zu pushen, führte dazu, dass sie mit dem ganzen Rücken gleichzeitig auf die Steinfliesen krachte. Ihre Füße aber hatten sich dabei nicht von der Stelle bewegt. Meine Füße dagegen waren durch die Dramatik der Situation, noch bevor ihr Rücken den Boden berührte, ein Stückchen nach vorne gerutscht. Nach den Spielregeln, nach denen sie zu Kämpfen gelernt hatte, wäre der Punkt an sie gegangen.
Später, so habe ich gehört, hat die Siegerin auch Ben Lo und das Push hand verlassen und ist Gurina geworden. In großer Leibesfülle sitzt sie auf einem Kissen und empfängt ihre gläubigen Anhänger, die niederknien und ihren Segen empfangen.
Der erste große Knick in Ben Los Welt war wohl der verlorene Kampf gegen Master Huang gewesen. Später aber hörte man, dass Ben Lo krank gewesen sei und sich einer großen Operation unterziehen musste. Dem Meister der harten Wege musste die Niere transplantiert werden. Nach chinesischer Auffassung ist die Niere der Speicherort für all die gute Lebensenergie, die man durch richtiges Leben in sich ansammelt.
Das letzte Mal, dass ich Ben Lo persönlich getroffen habe, war in Frankreich. Schüler hatten ein internationales Treffen zur Ehrung des großen Meisters Cheng Man Ching veranstaltet. Viele seiner inzwischen alten, direkten Schüler waren angereist. Nie hatte man diese eigenwilligen, von unglaublichen Geschichten umrankten Lehrer alle beieinander erleben können. Die europäischen Schüler hatten es sogar geschafft, eine Podiumsdiskussion zwischen den Meistern auf der Bühne und den Schülern auf den Bänken der Aula zu veranstalten.
Die Veranstaltung an sich war naiv, weil die Begegnungen zwischen chinesischen Lehrern und Schülern nicht den Charakter von Gesprächen haben. Beide Seiten waren bemüht und doch war es eher eine Demonstration von kulturellen Kommunikations-Problemen. Eine wesentliche Antwort gab es aber doch und zwar auf die Frage aus dem Publikum, wie wichtig es eigentlich sei, in einem der Turniere zu gewinnen.
Es meldete sich Ben Lo zu Wort, alt geworden, scheinbar geschrumpft um das Qi seiner Niere. Als Antwort gab er einen einfachen, selbstverständlichen Satz, der aber aus dem Munde dieses Mannes deutlich machte, dass sich sein Karma-Rad, wohl unter großer Last, aber dennoch, gedreht hatte. Ben Lo sagte:
„Es ist gar nicht wichtig, ob Du der Beste bist.
Wichtig ist, was Du in Dir fühlst.“
Gedichte
Geschriebenes vom Unschreibbaren
Erklär mir mein Wunder
Erklär mir mein Wunder.
Es ist doch kein Wunder,
es ist nur der Mond.
Erklär mir den Mond.
Der Mond ist ein Körper,
der Körper ist Masse,
die Masse braucht Teile.
Die Teile sind so
und ihre Teile wieder so.
Das Wunder bleibt unklar.
Die Klarheit ist unklärbar.
Nur wer klar ist im Klaren
ist klar.
Leseprobe aus:
Geschriebenes vom Unschreibbaren 1993
von Daniel Grolle
Bewegungsgedicht
Atem wallt einwärts, von Weite getragen
Leben bauscht die Segel mir
Erde drängt verdichtend durch alle Glieder
Und richtet mir aus was ich bin
Die Kräfte in mir münden ineinander,
fließen spielend über Bauch und Bein,
Schritt wird.
Wohl Hand, führ durch Dich in mich
Fremdes; ich trinke Dein in meine Sinne
Die Schweere schmiegt steigend sich
an meinen Wirbeln empor
und taucht in das Licht der Sonne
Stille im tummelnden Werden
strahlt mein Blick durchs Unsichtbare
Glück unwissend
Der Klang des Tropfens verbindet
Reise und Heimkehr
von Daniel Grolle
Gedicht zur Tai Chi Form bis Peng links
Ein Beginn aus nichts
wird sichtbar.
Fließend teilt sich
voll und leer.
Fließt,
und wendet sich dem Anfang zu.
Siehe, es steigt.
Fühle, es sinkt.
Bauch,
Du Meer meiner Mitte,
Du zarte, zeugende Mutter.
Klang klingt in mich.
ich trinke Dich,
herzwärts.
Wandelnd wird Außen innen,
wird Mitte.
Gehe aus in den Kreis
der Dich rückführt.
Die Füße Liebende
und Geliebte
der Erde.
Augenlicht des Herzens
und Hand am Puls des Urgrunds.
von Daniel Grolle
Beiträge von Schülern
Klassiker und Absichtslosigkeit
Nach einer anregenden Unterhaltung mit Daniel, in der es um die ‘Tai Chi Klassiker’ ging, dachte ich über einen Bestimmten Satz nach, über den Daniel und ich etwas unterschiedliche Auffassungen hatten. Und zwar über den Satz, der besagt: “Ich allein sehe den Gegner, aber der Gegner sieht mich nicht.”
Daniel inspirierte mich dazu ‘mich von den Klassikern freizumachen’, da es vielmehr um die eigenen Erfahrungen gehe als um solche ‘Rezepte’, und dieser Satz aus einer anderen Zeit mit anderen gesellschaftlichen (Über-)Lebens-Anforderungen stammt. Da es mir jedoch sehr viel Spaß macht, mit Erkenntnissen und Perspektiven zu experimentieren, machte ich mir noch einige Gedanken zu diesem Satz, in der Hoffnung eine Art von Verständnis zu finden, die Frieden fördert und kultiviert.
Dabei erinnerte ich mich, diesem Satz schonmal in einer etwas anderen Übersetzung begegnet zu sein.
Die Version über die ich mit Daniel sprach liest sich in etwa so:
“The opponent doesn’t know me; I alone know him.”
“Der Gegner kennt mich nicht; ich allein/aber kenne Ihn.”
Die Übersetzung die mir dann in Erinnerung kam, liest sich eher so:
“I, who sees everyone, who is seen by no one”
“Ich, der jeden sieht, der von niemandem gesehen wird”
Eine sehr ähnliche Formulierung kenne ich wiederum aus der indischen Mythologie. In ihr wird das ‘Brahman’, das Ungeschöpfte, das Abstrakte, nicht manifestierte Potential auf ungefähr folgende Weise beschrieben: “Das Brahman, welches überall vorhanden ist, alles durchdringt und doch nirgendwo gefunden werden kann.”
Und mit dieser Verknüpfung kam mir dann eine Idee, die mein Herz erfreut: Das Gegenüber kennt mich nicht, denn auch ich kenne mich nicht. Wir sind Beobachter. Wir sind uns unbekannt und entdecken uns in jedem Moment des Erlebens ständig neu. Ohne Selbstbild und ohne Plan sind wir absichtslos, aber auch wahrnehmend und darin können wir uns ‘gleichen’.
Seitdem ist dieser Satz aus den Klassikern für mich eine Hommage an die Absichtslosigkeit.
Und auch in der Kampfkunst heißt es ja gern, der schwierigste Gegner sei man selbst…
Vielen Dank an Daniel und an meine Mitschüler…
Eindrücke zum Thema Tai Chi und Wing Chun
Ich trainiere seit über 10 Jahren die Kampfkunst Wing Chun mit großer Begeisterung. Mein Lehrer ist Heilpraktiker und Zen-Körpertherapeut. Er lehrt ein lebendiges und schwingungsgeladenes Wing Chun. Dem Körper seine in ihm angelegten fließenden und dynamischen Bewegungsmuster zu entlocken, dabei im Kampf entspannt und stressfrei zu agieren, bedeutet viel fleißige Arbeit. Eben Kung Fu. Wing Chun gehört seinem Wesen nach zu den inneren und weichen Stilen – auch wenn man in unserer „modernen” Zeit im Bereich des Wing Chun einem bunten Jahrmarkt begegnet, der damit oft nichts mehr zu tun hat.
Interessiert beobachtete ich in letzter Zeit seine Brüder und Schwestern, wozu auch das Tai Chi zählt. Diese meditativ fließenden Bewegungen bereiten mir schon beim Zusehen große Freude. Das wäre doch etwas für die Zeit des Älterseins, dachte ich so im Stillen.
Nun ergab es sich jedoch, dass unweit meiner Wohnung eine Tai Chi Schule ansässig ist. Oft führte mich mein täglicher Weg an der schlichten Glasfassade mit dem grünen Aushänger vorbei. Es kam der Tag, an dem ein inneres Verlangen mich bewog, den Fuß durch diese neue Tür zu setzen und an einer Probestunde teilzuhaben. Meine Erwartungen erfüllten sich ab der ersten Stunde. Mit Überraschung und einem Wohlgefühl wurde ich in den ersten Wochen und Monaten in das große Thema „Lösen und Entspannen” eingeführt. Gegenüber dem Wing Chun Training, in dem zu großen Teilen ein immanenter Stress- und Anspannungsfaktor besteht, bekommt mein Körper im Tai Chi die Möglichkeit, in friedvoller Atmosphäre seiner Eigenbewegung zu lauschen, sich passiv und vertrauensvoll dem Moment zu überlassen. Was es hier alles zu lösen gilt, kann jeder nur selbst erfahren und erspüren. Loslassen macht glücklich – ja, das kann ich bestätigen.
Natürlich interessierten mich die Verbindungen und Gemeinsamkeiten der beiden Kampfkünste. Die Kraftquelle der Mitte, der Hüfte, freier Gelenke und Muskelketten ist mir aus dem Wing Chun vertraut. Seinen eigenen Körper, den Körper des Partners, die gemeinsame Energieverbindung zu fühlen: auch das wird im Wing Chun vermittelt und geübt. Aus heutiger Sicht halte ich die Übungsbausteine des Tai Chi Trainings jedoch für das geeignetere Hilfsmittel auf diesem Weg. Zu Beginn das feine Erspüren und Fühlen in friedvoller Atmosphäre, Strukturen energetisieren. lebendig machen, was sich starr und verängstigt nach Freiheit sehnt, das ist ein lohnenswertes Trainingsziel. Mein Verständnis von einem sich frei bewegenden Körper hat sich im Kern verändert. Die Bewegungsmuster, Körperhaltung und Wahrnehmung des modernen Menschen sind in aller Regel unlebendig und eingeschränkt. Auch im Kampf neigt der Körper schnell zu festen und angespannten Strukturen. Diese Muster im Wing Chun Training zu verändern halte ich für wesentlich schwieriger, als mit den Möglichkeiten des Tai Chi. Ist der Körper jedoch gelöst und natürliche Schwingungsmuster aktiv, kann auch das Wing Chun Training die im Kern in ihm angelegte Qualität wieder entfalten.
Auf die Frage “Welchen Einfluss übt das jetzt einjährige Tai Chi Training auf mein Wing Chun aus?”, kann ich folgendes sagen:
- Das „Erden” von Kratfteinflüssen auf meinen Körper hat sich verbessert und führt zu einer sicheren Verbindung mit dem Boden.
- Die Strukturen insbesondere der Körpermitte sind freier geworden und führen zu einem besseren Kräftefluss im Kampf.
- Das Vertrauen in entspannte Ying-Kräfte hat sich verändert. Die Yang-Lastigkeit des Geschehens nimmt ab. Das führt zu flexibleren und fließenderen Bewegungsmustern.
- Die Wahrnehmungsfähigkeit der Bewegung, des Energieflusses hat sich verbessert und führt zu der Möglichkeit einer intensiveren Eigenkorrektur.
Ich danke meinem Lehrer Daniel Grolle und den mit mir Übenden für diese wertvolle Erfahrung.
Teilnehmergedicht “Eine Stunde”
Eine Stunde
(Ein Resume über die beiden Pole: “leicht – schwer, Himmel – Erde”)
Da steht sie nun, voll allen Mutes
(Tai Chi, das weiss sie, tut ja ‘gutes’!)
Der ‘Maestro’ schaut sie prüfend an,
“wir kommen zur Ruhe, ….. beginnen dann.”
Da werden ‘Arme’ sanft bewegt,
der Körper hin und her gedreht,
die Wirbelsäule grad gebogen:
Denn Fundament ist Erde, leichtes oben!
Verbindung schaffen, heisst das Wort,
-Gewichtung- gleich! Doch trägt’s sie fort,
sie wankt und schwankt, die Wangen glühen,
(sieht er die Angst in ihrem Bemühen?)
Sie möchte sprechen, darf es nicht,
denn schweigend ‘hören’ ist jetzt Plicht!
Die Emotion besetzt die Plätze,
die frei sein sollten für die ‘Netze’,
die fein gesponnen zwischen Welten,
das ‘Ich’ bestimmen und nun gelten…
Wie schwer ist es, doch loszulassen,
‘Erfahrungswerte’ neu zu fassen,
die Zeit läuft rückwärts, vorwärts dann,
und irgendwann, begreift sie dann:
“Lebendig sein, bedeutet Lernen….”
Ich habe eine Schülerin im Einzelunterricht. Sie ist sehr individuell und kämpft oft entschieden gegen das an, was ich ihr zeigen möchte. Sie merkt das, wir gehen humorvoll, ernsthaft und spielerisch damit um. Jetzt hat sie mir dieses Gedicht geschenkt… und ich schenke es weiter 🙂
Warum Spielen so wichtig für mich ist
Dieser Text entstand während einer Ausbildung zur Taichi Spielen-Kursleiterin, im Rahmen der persönlichen Forschungsarbeiten die alle Schüler*innen zwischen den Modulen für sich alleine, mit ihren Buddys oder Buddygruppen machen.
Dieser Text entstand während einer Ausbildung zur Taichi Spielen-Kursleiterin, im Rahmen der persönlichen Forschungsarbeiten die alle Schüler*innen zwischen den Modulen für sich alleine, mit ihren Buddys oder Buddygruppen machen.
Ich möchte über das Thema Spielen schreiben, weil es mich persönlich betrifft und die Auseinandersetzung mit diesem Thema mir eine neue Sichtweise auf einige Dinge des Lebens ermöglicht. Inkohärenz durch Spielen in Kohärenz umzuwandeln schafft für mich neue Möglichkeiten, mit Problemen im Leben umzugehen.
Für mich bedeutet es, die Möglichkeit zu bekommen, Erfahrungen mit mir zu machen, Erkenntnisse über mich zu sammeln, meine mir innewohnende Natur zu entdecken, mit mir in Kontakt zu kommen und gleichzeitig eingebettet sein in eine Gemeinschaft von Mitspielern, die sich auf dem gleichen Weg befinden wie ich. Es gibt keinen Wettbewerb, niemand wird bewertet. Dies ermöglicht es, Fehler zu machen, angstfrei etwas auszuprobieren, etwas zu wagen. Nur auf diese Weise können Potentiale, die in uns schlummern entdeckt und entwickelt werden und zur Entfaltung gelangen. Ich kann mich zeigen wie ich bin, ich muß mich nicht verstecken, mir nichts beweisen. Spielen öffnet Räume für Kreativität und Co-kreativität: Potentiale können sich da am besten entfalten, wo Menschen miteinander spielen. Gemeinsames Spielen ermöglicht Entwicklung und Innovation. Neue Ideen von etwas entstehen, Kreativität kann sich entwickeln. Spielen bedeutet, mit all unseren Sinnen Erfahrungen zu sammeln, uns berühren lassen und dadurch innerlich zu wachsen.
Uta Münchsgesang
Inkohärenz wird durch Spielen in Kohärenz umgewandelt: Beim Taichi heißt das, Körper, Geist und die Gefühle stimmen überein, „ich bin bei mir zuhause“, ich bin authentisch. Wenn ich spiele bin ich konzentriert, ganz bei der Sache und lasse mich nicht ablenken, dadurch kann ich mich spüren, mich sehen, mein Selbst erkennen. Kohärenz bedeutet auch, etwas wird verständlich, ich begreife den Sinn dahinter und ich entdecke meine Fähigkeiten, meine Ressourcen und verstehe sie einzusetzen. Ich erlebe mich als jemand, der etwas bewirken kann, Zusammenhänge erkennen kann und dadurch mitgestalten kann: Ich erlebe mich als Subjekt, nicht als Objekt. Spielen bedeutet, in Resonanz zu sein mit mir und den anderen. Es bedeutet, Gefühle zu erleben wie Begeisterung, Spannung, Neugier, manchmal auch Unsicherheit, aber vor allem Freude. Konzentration ist dabei erforderlich sowie das Gefühl, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Beim Spielen vergesse ich die Zeit, ich nehme sie nicht mehr wahr, sie ist im Augenblick des Spielens für mich nicht
mehr vorhanden. Es bedeutet, die eigene Lebendigkeit erfahren, Verbundenheit und Freiheit zu erleben, kreatives Potential zu entfalten. Im Nachhinein erlebe ich die Zeit, in der ich gespielt habe, als erfüllte Zeit. Spielen stärkt die Gemeinschaft und schafft Lebensfreude, es macht Begegnung mit anderen auf Augenhöhe möglich und durch die Mitspieler erhalte ich ein Feedback, das mir Orientierung gibt und eine gesunde persönliche Weiterentwicklung möglich macht.Was macht einen guten Spielraum aus? Welche Bedingungen braucht es dafür?
Spielräume entstehen da, wo ich mich wohlfühle und sicher fühle und vertrauen kann. Dafür ist eine zeitliche und räumliche Begrenzung notwendig, sowie Spielregeln (sie vermitteln Sicherheit).
Gute Voraussetzungen sind:
- Möglichkeiten zu straucheln und in die Irre zu gehen, etwas auszuprobieren.
- Es braucht Raum für Versuch und Irrtum auch für längere Zeit (Raum und Zeit, etwas selbst herauszufinden, viel Geduld).
- Es braucht ein Miteinander, das Fehlermachen ermöglicht (kein Gegeneinander). Begegnung auf Augenhöhe.
- Eine ausgewogene Energiemenge (etwas wollen und dann loslassen) (Yin und Yang): Wenn ich mich zu sehr anstrenge und zu sehr auf ein Ziel fokussiert bin, bin ich verkrampft, werde ungeduldig und es behindert meine Wahrnehmung, den Zugang zu mir selbst und zu den anderen: Es funktioniert nicht. Wenn ich „nichts“ will, dann entsteht auch nichts.
- Der Weg ist das Ziel.
- Kein Druck, kein Stress: Wenn Druck im Spiel ist, entsteht nichts Neues und es gibt keine Entwicklung, sondern es wird reproduziert. Schlummerndes Potential kommt so nicht zur Entfaltung und ich bin frustriert, wenn ich z.B. eine Übung in einer vorgegebenen Zeit nicht schaffe.
- Kontakt zu anderen Spielern. Der Kontakt sollte wohlwollend und respektvoll sein. Gegenseitige Unterstützung ist erforderlich, kein Wettbewerb. Möglichkeiten zum Feedback durch die Mitspieler sind notwendig.
- Undifferenzierte Ausgangsbedingungen (also unpräzise, ungefähr): Dadurch entsteht Raum zum Ausprobieren, Kreativität kann sich entwickeln.
- Keine starren Ziele und Zeitvorgaben (erzeugt Druck)
- Keine Ranglisten (wer ist der/die Beste), keine Rangordnung von oben nach unten.
- Neugier der Spieler sollte geweckt werden: Sie ist für mich eine wichtige Triebfeder fürs Spielen. (ich bin z.B. neugierig auf mich, auf das was geschieht, auf die anderen, was entsteht, auf das Ergebnis)
- Achtsamkeit, Konzentriertheit.
Spielzeug ist das, womit ich spiele. Das kann beim Taichi der Körper oder Körperteile von mir oder von meinen Mitspielern sein. Ich spiele z.B. beim Armeschaukeln mit dem Arm meines Mitspielers: ich probiere an ihm aus, wie locker er ist, wie eine Bewegung funktioniert, wie der Körper reagiert, wenn ich ihn bewege………….usw. mit meinem Fuß probiere ich aus, wie ich auftrete, wo er belastet ist, was mit meinem Körper passiert, wenn ich das Gewicht verlagere,……..usw. Ebenso kann ich mit meinen Gelenken spielen. Ich erlebe an mir und an den anderen, wie eine Bewegung funktioniert und wie es sich dabei anfühlt. Ich spiele mit meiner Balance, mit der Gewichtsverlagerung, mit Anspannung und Loslassen, mit dem Atem, mit der Taichi-Form.
Üben oder trainieren bedeutet für mich, ich habe ein Ziel, ich will etwas erreichen. Dabei ist nicht der Weg zum Ziel wichtig, sondern das Ergebnis: Ich möchte etwas können (z.B. Taichi-Form oder ein Musikinstrument spielen). „Ich muß üben“……., „Übung macht den Meister“: Das sagt was über die Verbissenheit und Freudlosigkeit beim Üben aus. Der Weg des Übens ist unangenehm, manchmal auch mit Schmerzen verbunden. Es zählt nur das Ergebnis, der Erfolg. Spaß haben ist dabei völlig unwichtig und auch nicht vorgesehen. Es gehört dazu, daß, wenn ich etwas erreichen will, ich mich vorher dafür quälen und üben muß. Üben ist ein notwendiges Übel, um ein gestecktes Ziel zu erreichen und es ist nicht unbedingt mit positiven Gefühlen wie Spaß und Freude verbunden. Es bedeutet auch, daß ich, wenn ich das Ziel nicht erreiche, ich nicht genug geübt oder falsch geübt habe. Belohnung und Freude gibt es nur dann, wenn das vorgegebene Ziel erreicht wird. Wie und was ich übe ist vom Lehrer oder Trainer genau festgelegt.
Spielen heißt für mich, ich probiere etwas aus und habe Spaß dabei. Das Ergebnis ist dabei offen, d.h., ich weiß manchmal nicht genau, welche Erfahrungen ich beim Tun machen werde, was dabei herauskommt, wie das Ergebnis aussieht. Ich versuche, nicht nur eine Bewegung nachzumachen, sondern ich versuche sie zu erforschen, wie sie sich anfühlt. Dabei können neue Ideen entstehen. Wichtig sind beim Spielen die Begegnungen mit den anderen, vor allem der Spaß sowie die Erfahrungen, die ich mache und die Gefühle, die dabei entstehen: Freude empfinden an Beweglichkeit, am Körper, am Miteinander gehört zum Spielen. Der Lehrer oder Trainer hat dabei eher eine unterstützende und motivierende Funktion.
Gemeinsam spielen bedeutet für mich Erfahrungsaustausch, kein Wettbewerb (wer ist der/die Beste), gegenseitige Unterstützung, Spannung, Gemeinschaft erfahren, neue Erkenntnisse erhalten, Spaß haben. Spielen ist eine Kraft- und Energiequelle, es schenkt Freude, Leichtigkeit, Lebendigkeit und Lebensqualität. Persönliche Weiterentwicklung findet statt.
Außen ruhig wei der Berg – Innen fließend wie das Wasser.