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Mein Onkel Riclef

Mein Onkel Riclef soll ein freiheitsliebender junger Mann gewesen sein. Er habe sich sein Abitur aus der Schule abgeholt und sei ohne weiteren Gruß auf sein Fahrrad gestiegen und in die weite Welt hinausgeradelt. Riclef war Biologe mit einer tiefen Hingabe an die Pflanzenwelt. Manche Leute reisen durch die Welt um ein Bild von Rembrand zu sehen, andere um einen Guru zu besuchen und mein Onkel Riclef eben um eine Pflanze zu besuchen. Auf dieser ersten, großen Reise meines Onkels ging eine Nachkriegs – Poliowelle durchs Land. Das letzte Mal in der Seuchengeschichte gab es in Deutschland Polio – Tote. Auch mein Onkel wurde schwach auf dem Fahrrad, er machte sich auf den Heimweg und erreichte eben vor dem Erstickungstod noch die erste sogenannte „Eiserne Lunge“ des sozialistischen Deutschland. Sein Leben schien trotzdem besiegelt, bevor Riclef seine Freiheit wirklich hatte kosten können. Die Ärzte schätzten seine verbleibende Zeit auf Stunden, später auf Tage schließlich auf unbestimmte aber kurze Zeit. In Riclef wohnte eine Lebenskraft, die die Mediziner ratlos hinter ihre Statistiken zurücktreten ließ. Er lebte also und kämpfte um jeden Zentimeter Boden, den er dem Leben abringen konnte. Von der großen, weiten Welt musste er lassen, von den Streifzügen durch die Vielfalt der Schöpfung. Aber einen kleinen Winkel, beinahe den kleinsten aller Winkel behielt er für sich. Und in diesem Winkel verbiss er sich mit einer solchen fast übermenschlichen Entschlossenheit, wie kein Mensch vor ihm das je getan hatte. Er wurde der Herr der Lebermoose.
Moose sind uns allen auf angenehme weiche, grüne Weise bekannt. Wenigen allerdings ist es bewusst, das es Laubmoose gibt, die uns von nun an nicht weiter interessieren müssen – und eben Lebermoose. Die Lebermoose sind eine Welt für sich. Es gibt weltweit in etwa 20 000 Lebermoose, die durch ihre Existenz die Aufgabe an die Forschung hervorrufen, bestimmt zu werden. Etwas aber zu bestimmen, das weich, grün und angenehm ist, und diese Bestimmung so traumwandlerisch exakt zu gestalten, das dieses Etwas nicht mehr mit den 19 999 anderen, angenehmen, weichen grünen Etwassen verwechselt werden kann, braucht einen großen Mann.

Ein großer Mann war mein Onkel Riclef eigentlich nicht. Er hatte einen speziell für ihn angefertigten Rollstuhl in Kindergröße und einen Körper, der in den maßlosen 70 Jahren, die er dem Leben abtrotze in seinen Rollstuhl hineingeschmolzen war. Wenn wir ihn trugen oder wuschen hatte ich anfangs Mühe in seinem Körper zu verstehen was Becken, was Wirbelsäule war. Wie bei einem Butt im Laufe seines Lebens die Augen beide auf die Oberseite seines Körpers wandern, damit er erwachsen und flach auf dem Meeresgrund Butt sein kann, hatte Riclefs Körper einfach die ursprünglich gegebenen Formen an den Meeresgrund seines Rollstuhls angepasst. Hatte man das einmal begriffen, erkannte man in seinem Körper eine natürliche Stimmigkeit.
So wie er von innen in den Rollstuhl gewachsen war, war ihm die Welt von außen an seinen Rollstuhl herangewachsen. Jeder Winkel des Jenenser Hauses, in dem er seine gesamte Lebenszeit verbrachte, war auf seinen Rollstuhl zugeschliffen. Jeder Türrahmen trug eine Narbe in immer der selben Höhe der Rollstuhlradachsen, als hätte das ganze Haus einmal unter Wasser gestanden und hätte dann seinen höchsten Pegelstand zurückgelassen.
Seine eigentliche Heimat aber und die Hexenküche seines genialen Schaffens, war sein Mikroskopierzimmer. Seit ich denken kann durften wir nach einer gemeinsamen Mahlzeit auf einen verschmitzten Wink von ihm hin seinen Rollstuhl fassen. Dann mussten wir peinlich genau die Bewegungen mit ihm ausführen, die er einem Kind ebenso präzise und unnachgiebig erklärte wie Erwachsenen, oder auch seiner Geschwisterschar, die ihn 50 der 70 Jahre durch Haus, Garten und den Rest der Welt geschoben hat.
In dem Mikroskopierzimmer angekommen, in dem Bücher, Akten und Karteikarten, Glasplättchen, Briefe und Handzeichnungen rund herum bis an die Decke gestapelt waren, rollte er an die Mikroskope heran, zitterte mit seinen dünnen, feinen Fingern, die immer von den Ellenbogen wieder in seinen steifen Körper zurückgezogen werden wollten, an den Justierschrauben und dann, an den Feinjustierschrauben der Instrumente herum, glitt schließlich leise quietschend zurück und gab uns das Wunder frei, das wir dann durch die Okulare betrachten durften. Wir konnten Ränder erkennen, Linien, Flächen und erst durch seine hohe, zittrige Stimme wurden wir auf die Dinge aufmerksam, die dort ihr Geheimnis preis gaben.

In seiner Gegenwart schwebte immer, leicht angespannt, eine Atmosphäre von Entdeckung, von Überraschung, von Staunen. Immer überkam mich eine gewisse Stille, auch schon deshalb weil ich aufhörte ich selbst zu sein, so genau waren seine Angaben über alles was man zu tun und auch über das was man zu lassen hatte, über das was es zu entdecken gab und über die Weise wie diese Entdeckung stattzufinden hatte. Wenn er redete, begann er immer mit einer komplizierten Satzkonstruktion, in die man als Verstehender hineingeriet und die Orientierung verlor. Dann hielt er mitten in dem Satz inne, in dem ich als Hörer nicht mehr zurechtfand, und überraschte mich dann schließlich mit einem Ausgang, an den ich nicht mehr geglaubt hatte, der aber jedes Mal mit zweifelsfreier Gewissheit kam.
Später, als ich mit ihm Reisen machte gab es Momente, in denen Entscheidungen anstanden und ich in seinen labyrintischen Sätzen die Geduld verlor. Ich wollte die Information im Satz, er wollte, oder konnte nur den Satz als architektonisches Wagnis.
Eine besondere Aufmerksamkeit widmete er immer den jungen Männern in der Verwandtschaft, im Besonderen denen, die gerade ihren Führerschein gemacht hatten und vom Leben noch nicht fest in den Terminkalender geheftet waren. Seine zitternde Freude stand vor allem dann im Raum, wenn diese jungen Männer einen Sinn fürs Außergewöhnliche hatten. Jede Absonderlichkeit war verzeihlich, wenn er dafür einen Kumpanen fand um seine Absonderlichkeiten zu teilen, am liebsten auf Reisen zu teilen.
Riclef war zwar wie alle anderen auch in der DDR gefangen und hat vom ersten bis zum letzten Tag ihrer Existenz die Wahl gehabt zwischen Graubrot und Schwarzbrot aus dem Konsum, aber er war durch seine schwere Behinderung der sozialistischen Gesellschaft zum Glück so entbehrlich, dass er sogar mit eigenem Auto die Mauern seines bäuerlichen Gefängnisses verlassen durfte.

So lud er mich also einmal ganz allein in sein Mikroskopierzimmer. Wieder funkelten seine Augenwinkel voller Schalk. Er freute sich an einem besonderen Plan, den er nun für mich und mit mir ausführen wollte. Ich folgte ihm, kannte inzwischen jede Schrankkante, die Momente wo ich beim Herumschwenken mit dem Rollstuhl mit den Fußrasten die Wand anticken würde, wusste die Geschwindigkeit, die er noch tolerierte, war ein gut dressierter und freudiger Onkelschieber. Ich solle in das dritte Regal über dem Telephon schauen. Dort würde eine blassblaue Pappschachtel stehen. Er sprach dabei über ein Regal in seinem Rücken, das er nicht sehen konnte. Ich will die Schachtel nehmen und frage, „die mit dem zerknickten Deckel“? „Nein, im dritten Regal über dem Telephon.“ Ich zähle nach und frage mich, ob ich das Telephonregal selbst auch mitzählen soll, finde aber schließlich die gewünschte Schachtel. Ich solle die Schachtel auf seinen Schoß legen, ich solle sie öffnen. Hervor kommt eine eindrucksvolle Flasche. Riclef erklärt mir den Unterschied zwischen Coniac und Armaniac, erzählt mir den Weg, den eben diese Flasche bis in seinen Schoß gefunden hat und in welchem, raffinierten Bezug ich selbst zu dem ganzen Geheimnis stehe. Ich lausche und staune und trinke schließlich andächtig mit ihm den ersten Weinbrand meines Lebens an den ich noch oft denken werde.
Kurz nach dieser Initiation waren Riclef und ich auf großer Tour. Meine Eltern stellten ein neues Auto, aus stillen Quellen floss das Geld, ich stellte die Jugend, Offenheit und den Fahrer und Diener. Riclef selbst spendete den Willen und das Abenteuer.
Das Riclef ein großer Geist seiner Disziplin war, wusste ich bereits, aber ich hattekeine Ahnung davon mit welcher, beinahe religiöser Verehrung er von den normal sterblichen Lebermoosforschern begrüßt und bewirtet wurde. Da war ein Professor der Bryologie der seit beinahe einem Jahrzehnt mit der Bestimmung eines einzigen der 20 000 Lebermoose beschäftigt war. Mein Onkel stand ihm mit Rat zur Seite und erklärte mir schließlich, der Professor hätte gute und eindrucksvolle Arbeit geleistet, es müsse allerdings noch einmal ein anderer Geist mit frischen Gedanken an die endgültige Bestimmung dieses Mooses heran.

Nun muss man sich die Lebermooswelt nicht verträumt und friedlich vorstellen. Nein, es gibt keinen menschlichen Abgrund, den nicht auch die Lebermooswelt kennte. Da gab es die Guten und die Schlechten. Unnötig zu sagen, das mein Onkel Riclef natürlich der Gralsritter der Guten war, um den sich die Gerechten zur Abwehr des Bösen scharten. In abendlichen Krisenrunden wurde beraten wie man die hinterhältigen Pläne der anmaßenden Stümper würde vereiteln können. Wer nämlich, möglichst unter Umgehung aller anständigen Vorwarnstufen, in einem der großen amerikanischen Bryologie Zeitschriften eine Behauptung veröffentlicht hatte, war es damit gelungen den Standard zu setzen, hatte weltweit seinen Irrglauben bis in die letzten Herbarien verrieselt und damit das Gift der Falschheit an die Wurzel der Zukunft gelegt.
Mein Onkel aber, verschmitzt wie er war, wusste Rat. Während das Fußvolk in heilloser Aufregung war, laut wurde, sogar ausfällig, rollte mein Onkel nur freudig die Augen, hob seinen Zeigefinger aus der knochig verkrümmten Hand und verkündete in die erwartungsvolle Stille einen Schachzug von so verwegener Raffinesse, dass es etlicher Nachfragen bedurfte, bis alle meinten verstanden zu haben was denn nun Rettung brächte.
Eine weitere Plage der ernsthaften Bryologen war die Einmischung von Laien. Das Laien in den Wald gehen und die Moose betrachten ist für sich genommen noch kein wirkliches Problem. Wenn diese Unstudierten allerdings beginnen mit Lexikon und Bleistift Moose selbst zu bestimmen und dann glauben Dinge zu entdecken, die genauso unmöglich sind als wenn Pennäler das Perpetuum Mobile erfinden, dann wird dieser Eifer zu einer Geißel der ernsthaften Wissenschaft. Man kann versuchen solche Bestrebungen milde zu übersehen, man kann mit freundlichen Formbriefen auf größere Sorgfalt in der Wissenschaft verweisen oder kann Bücher empfehlen.
Nun hatte es aber ein besonders feuereifriger Laie geschafft sein Anliegen schließlich sogar dem Papst der Lebermoosforscher vorzutragen, meinem großen Onkel Riclef. Mein Onkel hatte das Schreiben sorgfältig gelesen, hatte den Strich seines Bleistifts betrachtet, die verwegene Theorie zur Kenntnis genommen und in einsamer Entscheidung beschlossen dem Mann die unglaubliche Ehre eines persönlichen Besuches zukommen zu lassen.
Der Mann, den wir besuchten war Schweizer. Ein Apotheker im ländlichen Hochland. Ein Mensch, der in dem Wahn lebte ein Lebermoos im umliegenden Wald entdeckt zu haben, das seit über 200 Jahren in Frieden und wissenschaftlich anerkannt ausgestorben war. Selbst Moose sind sterblich. Nun hatte er schon seine Apotheke umbenannt. Der Name des phantasierten Mooses prangte in Goldlettern auf Fenstern und Türgriff, eine Visitenkarte lag auf dem Apothekertresen bereit, mit Zeichnung und lateinischem Ordnungsbegriff. Der Mann, sank beinahe in die Knie vor meinem Onkel. Da ich den Onkel auf den Armen trug, wie ein kleines Kind, veranlasste die leichte Kniebeuge des Apothekers eine ebensolche, allerdings anstrengendere, leichte Kniebeuge von mir, damit die beiden ungleichen Forscher miteinander auf Augenhöhe bleiben konnten. Es gab ein paar nervöse Höflichkeitsfloskeln vorweg, bis wir endlich aufbrachen an den Yukon der Lebermoose, an die Fundstelle der behaupteten Weltsensation.

Der Apotheker vorweg, der sich für jeden Zaun und jede Wurzel entschuldigte. Hätte mein Onkel ihn nicht, wie er es gerne tat, mit seinem Besuch so überrascht, hätte er die Zäune entfernen lassen und die Wurzeln ausgegraben. So aber trug ich meinen titanischen Onkel warm vor dem Bauch. Sein hungerdünner Arm um meinen Nacken geschlungen, seine Hände vor meinem Bauch zu einer Schlinge verknotet. Ich sah nicht wohin ich trat und strauchelte öfter. Es war durchaus nicht ohne Gefahr und mein Onkel hatte nichts in seinem eigenen Körper, was ihn hätte schützen können. Allein sein stoisches Vertrauen in meine sehr jungen Beine und sein strahlender Wille sich von mir an das Ziel seiner Mission tragen zu lassen schafften das Gelingen.
Einmal fiel ich beinahe, konnte mich fangen, war nass vor Angstschweiß. Mein Onkel schwieg, atmete ruhig und meinte schließlich: „Nun ja, es ist ja nichts passiert“, womit er auf seine Weise vollkommen recht hatte.
Endlich blieb der bebende Apotheker stehen. Wir standen am Fuß einer Buche. Der Boden war voller Moose, ein unscheinbarer eher etwas dreckig, feuchter Winkel des Waldes. Langsam ließ ich meinen Onkel ins Moos sinken. Er rollte auf die Seite, sein Blick auf den gezeigten Ort gerichtet. Er streckte seine Hände aus, schaute lange durch seine randlose Brille. Die Zeit stand still. Ein Schicksalsberg wankte zwischen erhabenem Gelingen und Untergang. Endlich, endlich wandte mein Onkel seinen Blick zu uns auf. Es war ein großer Ernst in seinem schönen, feinen Gesicht, dann begann das verschmitzte Lächeln in seinen Augenwinkeln zu leuchten. Er nickte kaum merklich. Ein Schicksal hatte sich erfüllt.

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