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40.000 Volt

Wir haben auf einem so seltsamen Weg einen Bahnhof gekauft, das die Geschichte von dem Bahnhof viel länger wäre, als die, die ich erzählen möchte. Jedenfalls gibt es eine Bahnstrecke die scheinbar völlig vergessen durch die Felder und Wälder
zieht und mitten im Nichts einfach anhält, an einem einsamen Bahnhof. Hier steigt Niemand ein und Niemand aus, außer unseren Kindern, die morgens in den Garten gehen und mit der Bahn in die Schule fahren. So einsam dieser Bahnhof auch sein
mag, 100 km weiter drängen sich die Fahrgäste vor den endlos komplizierten Fahrkartenautomaten der Bundesbahn und suchen aus einer Liste von möglichen Reisezielen die richtige Codenummer heraus. Auf dieser Liste steht unser Bahnhof mit einer eigenen Nummer. Ich behaupte, außer uns, hat überhaupt noch Niemand jemals diese Codenummer in den Fahrkartenautomaten am Hamburger Hauptbahnhof eingegeben.

Hinter unserem Bahnhof beginnt eine Wiese, die Wiese endet am Wald und lange haben die Kinder und ich gemeint, der Wald würde überhaupt nie enden. Einmal haben wir versucht ihn zu durchwandern. Nach vier Stunden kamen wir in etwa dort wieder an, wo wir auch in den Wald hineingewandert waren. Seit dem nennen wir ihn den Zauberwald.

Das hintere Ende unseres Grundstücks wurde von einem Überlandkabel geschnitten, das zwischen zwei weit auseinanderstehenden Betonmasten so tief herabhing, das die Eichen, die unser Grundstück begrenzen, regelmäßig von der Stromgesellschaft zurückgeschnitten werden mussten.

Im vorhergegangenen Winter hatten anhaltende Regenfälle die Wiese zu einem schmatzenden Morast gemacht. Mitten während eines Schneesturmes war die Stromgesellschaft mit einem Kranwagen auf die Wiese gefahren um die Bäume wieder zurückzuschneiden. Ich konnte vom Küchenfenster aus sehen wie das Fahrzeug über die Wiese wankte, schlingerte, vor und zurückwalkte und schließlich mit erheblicher Schlagseite bei den Bäumen strandete. Ich stiefelte durch den peitschenden Schneeregen. Der Mannschaftswagen war so beschlagen das man drinnen nichts sehen konnte. Die Tür flog auf. Die Männer brüllten, hielten sich an ihren Thermoskannen fest. Ich brüllte. Sie wollten sich selber helfen. Später kam ein schweres Allradfahrzeug, das beim Bergen so tiefe Spuren in die Wiese pflügte, das sie noch Jahre später zu sehen waren. Die Eiche blieb in diesem Jahr ungeschnitten.

Im Frühjahr schießen die Bäume mit einem so unglaublichen Tempo in den Himmel, das man meint zusehen zu können. Meterlange, peitschenartige Zweige springen dem Himmel entgegen. Ein Wettrennen zur Sonne. Schon war es soweit, das bei
Wind die ersten Peitschenarme der Eiche die herabhängenden Kabel erreichten. Es gab dann ein Geräusch als wenn eine Fliege in eine elektrische Lichtfalle gerät und zischend verbrennt. Die Astspitzen waren schon schwarz versenkt.

So beschloss ich an einem windstillen Tag, an dem die Äste noch um einiges von den Kabeln entfernt waren, in den Baum zu steigen und die fast senkrecht stehenden Zweige unten zu kappen und dann durch den Baum hindurch zur Erde fallen zu
lassen. Weiter unten im Baum standen unsere beiden Jungs und halfen den Ästen beim herabrutschen. Die Arbeit ging gut voran und bald war wieder reichlich Luft zwischen der Eichenkrone und den Kabeln. Jetzt ging ich auch daran die seitwärts abstehenden Äste der Krone abzuschneiden, die ich allerdings nicht mehr gerade herabsinken lassen konnte. Sie blieben abgesägt einfach auf den tiefer liegenden Ästen liegen. Also warf ich sie mit Schwung seitwärts aus der Krone heraus, sodass sie außen herabfielen und auf die Wiese stürzten. Als ich einen besonders langen dieser Äste schwungvoll aus dem Baum schleudern wollte, geschah etwas was ich mit nichts vergleichen kann was mir sonst je begegnet ist. Ich bin schon mehrmals an 220 Volt Leitungen gekommen und kenne diesen durchdringenden Schock, das panische Wegschrecken, das Erwachen danach. Das ganze ist dann aber nicht stärker als würde man gegen eine Glastüre laufen. Ein plötzlicher Schmerz, ein zurückprallen, eine Kraft die groß ist, aber durchaus im Rahmen der Kräfte mit denen ein Mensch im Laufe seines Lebens umzugehen lernt. Diese Kraft aber war so unbeschreiblich gewaltig das keiner meiner Sinne auch nur annährend in der Lage war ein passendes Gefühl dafür hervorzubringen. Kennst Du es, wenn Du auf einem Provinzbahnhof stehst und die Ansage hörst: „Bitte treten sie zurück, es kommt ein durchfahrender Zug mit hoher Geschwindigkeit“. Dann stehst Du da, siehst den schönen schlanken Triebkopf eines ICE fast lautlos auf dich zuschießen. Dann ist er plötzlich da, schlägt auf dem Bahnhof ein, trifft Dich mit seinem rasenden Winddruck,
hüllt Dich in brüllendes Schweigen und ist vorüber. So ein Zug fuhr nicht an mir vorüber, sondern für etwa eine halbe Sekunde durch mich hindurch. Mein Körper, mein Geist einen Moment lang ein Gleis für Strom der eine ganze Kleinstadt versorgt. Tausend Toaster, Waschmaschinen, Kellerlampen in jedem Teil meines Selbst.

Der Ast viel herab. Ich stand oben im Baum, unter mir die Kinder über mir Himmel und drei schwarze Kabel. Mein erstes vages Gefühl war, dass ich noch lebte. Mein Körper war mir geblieben. Ich konnte mich bewegen. Mehr fallend als kletternd erreichte ich den Boden. Die Kinder fragten mich was los sei. Sie riefen mich an. Liefen neben mir. Ich spürte ihre Gegenwart, konnte sie hören, aber wie sollte ich sprechen?

Ich ließ mich rückwärts in die Wiese fallen über mir die Kinder: „Papa, Papa, was ist los?“
Da konnte ich schließlich mit dem Finger in den Himmel zeigen. Die Kinder schauten auf und sahen etwas, das es in all den Jahren nie zuvor und nie danach auf unserem Grundstück gegeben hatte. Zwei wunderschöne Störche waren direkt über uns
hinweggeflogen und begannen nun über uns dreien zu kreisen. Sie flogen so niedrig, das man jede ihrer gespreizten Steuerfedern erkennen konnte. Die Kinder legten sich zu mir und schauten wie die beiden sich ganz allmählich höher und höher
schraubten, bis sie nach langer Zeit kaum noch zu sehen waren in dem gewaltigen Blau des Himmels.
„Kinder,“ sagte ich, „es stimmt also doch, das die Störche den Menschen das neue Leben bringen.“

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